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Die Nibelungen neu erzählt

Die Nibelungen neu erzählt

Titel: Die Nibelungen neu erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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den Weg.
    Dann, als es Mittag war und die Sonne heiß am wolkenlosen Himmel stand, gelangte er zu dieser Wegkreuzung, und wie ihm aufgetragen wurde, ging er nach links. Und er kam zu der Schlucht.
     
    Nun taucht die Geschichte ab ins Märchenhafte. Die Geschichte der Nibelungen mäandert zwischen Historischem, Sagenhaftem und Märchenhaftem dahin. Wie alle diese Sagen, die zuletzt in einem Epos oder einem Lied, in einer reproduzierbaren Form der Erzählung, zusammengefaßt wurden, basiert auch das Nibelungenlied auf verschiedenen Geschichten aus verschiedenen Zeiten, die der Autor, wer immer er auch war, zu einem neuen Ganzen komponiert hat. Jede der ursprünglichen Geschichten gab es in verschiedenen Variationen. Verschiedene Erzähler trugen sie in verschiedene Länder, dort entwickelten sie sich gemäß der jeweiligen Situation verschiedenartig weiter. Nicht anders liegt der Fall beim Nibelungenlied.
    Hier also beginnt das Märchen …
     
    Als Siegfried in diese Schlucht ging, rief er, wie ihm aufgetragen wurde, nach dem Köhler. Aber er bekam keine Antwort, und er rief noch einmal.
    Da hörte er hinter sich ein Kratzen, und als er sich umdrehte, sah er den Drachen, den Lindwurm.
    Der Drache warf einen Stein nach ihm. Verfehlte ihn.
    »Ah!« rief Siegfried. »Einer, der spielen will!«
    Wir wissen, wie ein Drache aussieht. Wir haben noch nie einen gesehen, aber wir wissen, wie er aussieht. Wir behaupten zwar, daß es keine Drachen gibt, aber wir wissen, wie sie aussehen würden, wenn es welche gäbe. Ein eigenartiges Wissen ist das. Es sei den Tiefenpsychologen überlassen, dieses Wissen zu erklären.
    Der Drache ist in solchen und ähnlichen Geschichten immer der Inbegriff des Bösen. Vielleicht wissen wir deshalb, wie er aussieht, weil wir alle eine Vorstellung vom Bösen in uns tragen.
    Siegfried hatte keine Vorstellung vom Bösen. Und er wußte nicht, was das für ein Wesen war, das da Steine nach ihm warf. Er ging davon aus, daß ihm der Drache nichts Böses antun wollte. Er wich den Steinen aus, glaubte, es sei ein Spiel, riß einen Baum aus, einen kleinen Baum, warf den Baum nach dem Drachen.
    »Hier, versuch doch, ihn zu fangen!«
    Dann warf der Drache wieder einen Stein nach ihm, und nun schnaubte er wütend. Siegfried erinnerte sich an den Stier in seiner Kindheit. Nun wußte er: Der Drache ist wütend.
    »Gut«, rief Siegfried, »wenn es dir nicht paßt, daß ich Bäume werfe, dann laß ich es. Aber du wirf dann bitte auch keine Steine!«
    Der Drache schnaubte noch zorniger, und er warf noch einen Felsbrocken nach Siegfried. Und Siegfried riß noch einen Baum aus.
    So ging das hin und her. Bald hatte Siegfried einen kleineren Wald ausgerissen. Er war schneller und stärker als der Drache. Schließlich war der Drache ganz zugedeckt mit lauter Bäumen.
    »Lassen wir es genug sein«, sagte Siegfried.
    Aber der Drache besann sich seiner schlimmsten, seiner gefährlichsten Waffe: Er konnte Feuer speien. Er wollte seinen Feueratem über seinen Gegner hauchen. Aber er war ja bedeckt mit den Bäumen, die Siegfried ausgerissen hatte. Und die Bäume fingen Feuer.
    Der Drache war nun wie in einen Scheiterhaufen eingeklemmt zwischen den brennenden Baumstämmen, und er wollte sich befreien, und wer weiß, vielleicht hätte er es auch geschafft.
    Da sagte Siegfried: »Ja, nun gut. Wenn du mir Böses willst, ich kann das auch.«
    Er griff in seine Tasche und holte das feine Netz heraus, das er in monatelanger Arbeit beim Schmied Mime geschmiedet hatte.
    »Das«, sagte er sich, »will ich nun ausprobieren!«
    Er warf das Netz über den Drachen und über die Baumstämme, und nun kam der Drache nicht mehr aus, und er verbrannte unter dem Netz in seinem eigenen Feuer.
    Da geschah etwas sehr Merkwürdiges, etwas Unglaubliches: Siegfried schlief ein. Es wird nicht gesagt, warum er einschlief. Vielleicht war es die Erschöpfung. Andererseits wird er von dem Kampf so voll Adrenalin gewesen sein, daß man eigentlich annehmen muß, auch die schlimmste Erschöpfung hätte nicht zum Schlaf führen können.
    Tatsache jedenfalls ist: Siegfried schlief ein.
    Ich könnte mir freilich einen Grund vorstellen: Es war Mittag, Siegfried war ein blonder Typ, er hatte jeden schattenspendenden Baum der Umgebung während des Kampfes ausgerissen, die Sonne brannte auf seinen Kopf, er war erhitzt … Kurz: Er hat einen Sonnenstich bekommen und das Bewußtsein verloren.
    Er wachte auf, weil seine Hand höllisch schmerzte. Der Drache nämlich,
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