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Die Nibelungen neu erzählt

Die Nibelungen neu erzählt

Titel: Die Nibelungen neu erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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der da in dem Scheiterhaufen geröstet wurde, ließ Fett aus. Das heiße Fett rann über den Hügel herunter bis zur Hand von Siegfried. Er verbrühte sich die Hand, davon wachte er auf.
    Er blies auf seine Hand, sie tat schrecklich weh, und da merkte er, daß das Fett nicht mehr abging. Er wollte es wegwischen, aber es haftete daran. Er wollte es wegkratzen, aber es ging nicht. Als das Fett an seiner Hand abgekühlt war, da sah er, daß er so etwas wie eine zweite Haut bekommen hatte. Und diese Haut ließ sich nicht durchstoßen. Er zog seinen Dolch und versuchte, seine Hand zu ritzen. Es gelang nicht.
    Oh, da schaltete Siegfried sehr schnell! Er sagte zu sich: »Das ist eine einmalige Gelegenheit. Es wird ein paar Minuten lang weh tun, dafür werde ich ein Leben lang keine Schmerzen mehr haben!«
    Er leitete das Drachenfett in eine Mulde, wartete, bis es einigermaßen erträglich in der Temperatur war, zog seine Kleider aus und wälzte sich darin.
    Er war unverwundbar geworden! Von nun an wird er auch der »gehörnte Siegfried« genannt.
    Ich sagte, wir sind hier im märchenhaften Teil der Erzählung, und im Märchen geht es immer mit Magie zu, und das heißt: Alles ist belebt. Es gibt nicht nur Drachen und andere Wesen, auch die Pflanzen haben Gefühle, auch die Bäume haben einen Willen.
    Da war ein kleiner Lindenbaum, den hatte Siegfried stehen lassen, der war zu klein, um ihn nach dem Drachen zu werfen. Und dieser kleine Lindenbaum sah nun eine Gelegenheit, seine Brüder und Schwestern, die Siegfried getötet hatte, zu rächen. Und dieser kleine Lindenbaum war derselben Meinung wie Mime, der Schmied, nämlich daß das Kräftige, das Rohe, das Brutale nur mit dem Feinen besiegt werden kann.
    Der kleine Lindenbaum ließ, als sich Siegfried im Drachenfett wälzte, ein Blatt fallen. Das torkelte herunter – und man glaube nur ja nicht, das Blatt sei sich seiner Rolle im großen Schicksal des Helden nicht bewußt gewesen! So schwankte es durch die Luft, wurde von einem kaum spürbaren Windhauch noch einmal gehoben und fiel auf Siegfrieds Rücken. Und dort blieb es liegen. Und das Drachenfett rann über das Blatt, und als das Fett getrocknet war, fiel das Blatt herunter.
    Wo das Blatt auf Siegfrieds Rücken gelegen hatte, war die einzige Stelle, an der unser Held verwundbar war. Und diese Stelle war ausgerechnet über seinem Herzen.
    Aber Siegfried wußte es nicht.
    Wir kennen ja diese Geschichten von den Helden, die unverwundbar sind – Achill zum Beispiel. Es gehört zur Grundausstattung solcher Helden, daß sie nicht verletzt werden können. Aber immer erweist sich diese Ausstattung als mangelhaft, denn am Körper des Helden findet sich dann eben doch eine Stelle, die ihn uns Mittelmäßigen gleich macht. Bei Achill war es die Ferse, bei Siegfried ist es dieser kleine Fleck am Rücken, der die Form eines Lindenblattes hatte.
    Es existieren natürlich auch noch andere Erzählungen über diesen Drachenkampf. Manche behaupten, Siegfried habe sich nicht im Fett, sondern im Blut des Drachen gewälzt, er habe den Drachen mit dem Schwert abgestochen. Das Drachenblut habe Siegfried unverwundbar gemacht, nicht das Drachenfett. Das ist die heroische Variante. Wer diese Version glauben will, soll sie glauben, und wer sie erzählend glaubt, für den ist sie auch wahr.

König Nibelung und König Schilbung
     
    Als Siegfried das Abenteuer mit dem Drachen überstanden hatte, da besann er sich wieder seiner Aufgabe. Er war ja nicht in diese Schlucht gekommen, um Drachen zu töten, sondern um Holzkohle zu holen. Das war seine Aufgabe. Zu diesem Zweck war er von den Gesellen des Mime losgeschickt worden. Das Drachentöten war nichts weiter als ein Intermezzo.
    Er machte sich also weiter auf den Weg, tiefer in diese Schlucht hinein, und immer wieder rief er den Namen des Köhlers. Es wurde Abend, dann wurde es Nacht, und Siegfried verirrte sich. Er kam in einen Wald, und er sah nichts mehr. Da hörte er Stimmen vor sich, und er stieg leise auf eine Anhöhe und legte sich ins Laub. Er sah unter sich Lichter, Fackeln.
    Da war eine Höhle, und Siegfried sah, daß graue Männer in langen Kapuzenmänteln aus dieser Höhle kamen, immer zu zweit, und zwischen sich trugen sie auf Bahren Schatztruhen. Sie öffneten diese Truhen und kippten Gold in die Mitte des Platzes, als wäre es Kies. Immer mehr Männer kamen, und immer größer wurde der Haufen vor Siegfrieds Augen.
    Am Ende stellten sich die grauen Männer nebeneinander an der
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