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Die Nibelungen neu erzählt

Die Nibelungen neu erzählt

Titel: Die Nibelungen neu erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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hätten – Gunther, Gernot und Giselher gaben diesen Männern einfach gar keine Befehle, sie waren zufrieden, daß sie in diesem Punkt von Hagen von Tronje vertreten wurden.
    Aber: Der Lehnsmann Hagen von Tronje war Gunther, Gernot und Giselher untertan, die drei waren seine Lehnsherren. Sie dachten nicht einmal daran, daß sich jemals die Rollen vertauschen könnten. Alles hatte seinen festen Platz, und die festesten Plätze waren die, auf die einer gestellt wurde von Geburt, ein Mann oder ein Herr. Nie ist so scharf zwischen Herr und Mann unterschieden worden.
    In Wahrheit aber führte Hagen von Tronje die Regierungsgeschäfte.
    Dieser Hagen von Tronje ist ein bemerkenswerter, ein zutiefst widersprüchlicher Charakter. Sein Ruf eilte durch ganz Europa. Den einen galt er als besonders grausam, als jemand, der immer den härtesten und kompromißlosesten Weg einschlug. Andere hingegen meinten, er sei jemand, der sich jeder neuen Situation wunderbar anschmiegen könne, ein Diplomat. Sein Name hatte Klang, das heißt, man hörte zu, allein wenn der Name genannt wurde. Und wenn Hagen von Tronje irgendwo auftrat, dann wurde es still – vor allem am Hof von Burgund.
    Hagen war unberechenbar, undurchschaubar, auch für Gunther, Gernot und Giselher. Aber er galt als unbedingt loyal und unschlagbar klug. Hagen von Tronje war der Garant dafür, daß Worms nicht eingenommen wurde. Jedenfalls solange sich Lüdegast und Lüdeger nicht einig waren.
    Zu jener Zeit waren sich der König von Dänemark und der König von Sachsen nicht nur nicht einig, sie waren miteinander verfeindet. Und es gab viele, die behaupteten, genau zu wissen, daß die Feindschaft zwischen Dänemark und Sachsen das Werk eines gewissen burgundischen Lehnsmannes war …
    Die Fähigkeiten des Hagen von Tronje gaben ihm am Hof eine unantastbare Macht. Jeder wußte: Ohne Hagen von Tronje wären Worms und das Burgundenland verloren. Da gab es andere Könige und Fürsten, die waren nicht weniger an einer Einverleibung des Burgundenreiches interessiert als Lüdegast und Lüdeger, aber die setzten eher auf eine Methode, die später die Österreichische Methode genannt werden sollte.
    Da dachte sich der eine oder andere: »Nein, mit Gewalt läßt sich dieses Reich nicht holen. Da ist Hagen von Tronje davor. Wer weiß, mit wem er wieder heimlich einen Pakt geschlossen hat. Ihm ist alles zuzutrauen. Womöglich mit dem Teufel persönlich. Aber wenn ich mich einheirate, dann nützen dem Hagen kein Heer und keine Heldenstaffel und keine Diplomatie und keine Ränke.«
    Schließlich lebte ja auch Kriemhild in Worms, und Kriemhild galt als die schönste Frau ihrer Zeit. Und so geschah es, daß viele Fürsten- und Königssöhne kamen und um die Hand der Kriemhild anhielten.
    Die Wahrheit lautet wohl: Gunther war gar nicht so abgeneigt, wenn das Reich der Burgunden in die Hand eines starken Schwagers übergeben worden wäre. Er dachte, es würde sich sicher eine Formulierung finden, die ihn und seine Brüder in Ehre und Würde aussteigen ließ, so daß sie vielleicht weiter Könige sein würden, die verantwortungsschweren Regierungsgeschäfte aber ein anderer übernähme. Wenn da ein starker Schwager käme und die Regierungsgeschäfte führte, dann würde weiterhin nichts passieren …
    Aber Kriemhild war wählerisch. Sie sah sich jeden ihrer Bewerber sehr genau an. Sie stellte Fragen, kommentierte scharf die Antworten, verwirrte die Kandidaten in Diskursen, lud sie zu Denkwettbewerben ein, machte sie lächerlich.
    Und immer wurden am Ende alle nach Hause geschickt. Entweder sie waren ihr nicht schön genug, oder sie waren ihr nicht jung genug oder nicht fröhlich genug, oft waren sie ihr nicht klug genug. Aber die meisten waren ihr zu häßlich, zu alt, zu griesgrämig und zu dumm, alles auf einmal. – Ja, Kriemhild war eine wählerische Frau.
    Für Hagen von Tronje war die Unentschlossenheit der Prinzessin eine Art Versicherung. Warum? Das liegt auf der Hand. Ein starker Gemahl von Kriemhild – und Kriemhild hätte sich nur mit einem starken, willensstarken, intelligenten, vor allem charakterstarken Mann zufriedengegeben – hätte Hagens Macht am Hof beschnitten, wenn nicht gar völlig zunichte gemacht.
    Dazu kommt noch etwas: Aus dem Verhalten Hagens läßt sich schließen, daß er selbst in Kriemhild verliebt war. Nur, diese Liebe mußte unglücklich sein. Und sie war in einem doppelten Sinn unglücklich. Zunächst einmal war sie unglücklich, wie jede unglückliche
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