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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W
Autoren: Urlich Plenzdorf
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denken, wie er schreibt:
    Zieht ihn nicht jedes elende Geschäft mehr an als die teure, köstliche Frau?... Sattigkeit ist’s und Gleichgültigkeit!
    Nun war ja Dieter kein Geschäftsmann und Charlie alles andere als eine teure Frau. Und Sattigkeit war’s bei Dieter auch nicht. Klar, daß er von wegen der Armee ein hohes Stipendium hatte. Aber unsereins verdiente garantiert dreimal soviel mit dem bißchen Pinselei. Ich wußte auch nicht, was es war. An sich hatte ich gegen Dieter nichts einzuwenden. Feststand bloß, daß er seit ewig mit Charlie nicht mehr aus ihrer Bude gegangen war. Das war das einzige, was feststand. Ungefähr als ich das analysiert hatte, kam Charlie aus dem Zimmer geschossen. Ich sage nicht umsonst: geschossen, Leute. Zu mir sagte sie bloß: Komm!
    Ich war sofort bei ihr.
    Dann sagte sie: Warte!
    Ich wartete. Sie griff sich vom Kleiderhaken diesen grauen Umhang und drückte ihn mir an die Brust. Dieter hatte das Ding wohl von der Armee mitgebracht. Es roch außer nach Gummi, nach Benzin, Käse und verbranntem Müll.
    Sie fragte mich: Kannst du Motorboot fahren? Ich sagte: Kaum.
    Normalerweise hätte ich gesagt: Klar. — Bloß, ich hatte die Rolle des braven Jungen schon wieder so gut drauf, daß ich glatt die Wahrheit sagte.
    Charlie fragte: Was ist?
    Sie sah mich an, wie wenn einer nicht richtig verstanden hat.
    Ich sagte sofort: Klar.
    Drei Sekunden später waren wir auf dem Wasser. Ich meine: Es dauerte sicher eine Stunde oder so. Es ging mir bloß zum zweitenmal mit Charlie so, daß ich einfach nicht wußte, wie ich wohin gekommen war. Wie im Film ging das. Zack — und man war da. Ich hatte damals bloß keine Zeit, das zu analysieren. Dieses blöde Boot hatte ziemlich viel PS. Es schoß wie irr über die Spree, und drüben war die Betonmauer von irgendeinem Werk. Ich hatte alle Mühe, noch irgendwie die Kurve zu kriegen. Statt daß ich Idiot einfach Gas weggenommen hätte. Wir wären glatt ersoffen, und von dem Boot wäre nicht die Bohne was übriggeblieben. Diese Boote gehen ja sofort los, wenn man sie anläßt. Nichts mit Kupplung und so. Ich sah Charlie an. Sie sagte keinen Ton. Ich nehme an, der Bootsmensch von dem wir den Kahn hatten, wurde nicht wieder dabei. Ich sah ihn bloß auf seinem Steg stehen. Wie Charlie ihm das Boot aus dem Kreuz geleiert hatte, war sowieso ein Kapitel für sich. Ich weiß nicht, ob einer glaubt, daß ich sehr schüchtern war und das. Oder daß ich Hemmungen hatte. Aber ich hätte gepaßt, als ich den Bau sah von dieser Ausleihstation der Jugend. Das triefte alles vor Nässe. Im Wasser kein einziges Boot. Schließlich konnte von Saison keine Rede mehr sein kurz vor Weihnachten. Und der Bau war verrammelt wie für den dritten Weltkrieg. Aber Charlie fand ein Loch im Zaun und klingelte den Bootsmenschen aus dem Bau und bekniete ihn so lange, bis er uns dieses Boot aus seinem Bootshaus rausgab. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Der Bootsmensch wahrscheinlich auch nicht. Ich glaube, an dem Tag hätte Charlie alles erreicht. Sie war einfach nicht zu bremsen. Sie hätte jeden zu allem rumgekriegt.
    Auf dem Wasser kroch sie mit unter die Pelerine. Es regnete immer noch wie verrückt. Ein paar Grad weniger, und wir hätten den schönsten Schneesturm gehabt. Wahrscheinlich wird sich keiner mehr an den letzten Dezember erinnern.
    Es war sicher ekelhaft klamm in dem Kahn, aber ich merkte kein Stück davon. Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Charlie legte den Arm um meinen Sitz und den Kopf auf meine Schulter. Ich dachte, ich wurde nicht wieder. Das Boot hatte ich langsam im Griff. Ich wußte nicht, ob es auf dem Wasser auch Verkehrsregeln gab. Ich hatte mal so was läuten hören. Aber auf dieser ganzen ewig langen Spree war an dem Tag nicht ein einziges Boot unterwegs oder Dampfer. Ich zog den Gasgriff ganz raus. Der Bug stellte sich hoch. Dieses Boot war nicht übel. Wahrscheinlich war es für den Privatgebrauch von diesem Bootsmensch. Ich fing an, allerhand Kurven zu ziehen. Hauptsächlich Linkskurven, weil das Charlie so gut gegen mich drückte. Sie hatte nicht die Bohne was dagegen. Später fing sie selber an zu lenken. Einmal kamen wir nur knapp an einem Brückenpfeiler vorbei. Charlie sagte keinen Ton. Sie hatte immer noch ungefähr dasselbe Gesicht von dem Moment, als sie von Dieter rausgeschossen kam.
    Ich hatte bis dahin nicht gewußt, daß man eine Stadt auch von hinten sehen kann. Berlin von der Spree, das ist Berlin von hinten. Die ganzen
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