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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W
Autoren: Urlich Plenzdorf
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ollen Werkhöfe und Lagerschuppen.
    Zuerst dachte ich, der Regen würde uns das Boot vollmachen. Aber da war nichts. Wahrscheinlich fuhren wir drunter weg. Wir waren längst naß bis auf die Haut, trotz der Pelerine. Gegen diesen Regen half sowieso nichts. Wir waren so naß, daß uns längst alles egal war. Wir hätten ebensogut baden können in den Sachen. Ich weiß nicht, ob das einer kennt, Leute. Man ist so naß, daß einem wirklich alles egal ist.
    Irgendwann hörten dann die Schuppen auf. Nur noch Villen und das. Dann mußten wir abbiegen, entweder links oder rechts. Ich zog natürlich nach links. Ich hatte bloß die Hoffnung, daß wir aus diesem See wieder rauskamen. Ich meine: auf einem anderen Weg. Ich wollte zeitlebens nie den gleichen Weg zurück machen, den ich irgendwo hingegangen war. Nicht aus Aberglauben und so. Das nicht. Ich wollte es nicht. Es langweilte mich wahrscheinlich. Ich glaube, das war auch so eine meiner fixen Ideen. Wie die mit der Spritze zum Beispiel. Als wir an einer Insel vorbeirauschten, wurde Charlie unruhig. Sie mußte mal. Ich verstand das. Wenn es regnet, geht einem das immer so. Ich suchte eine Lücke im Schilf. Zum Glück gab es davon massenweise. Eigentlich mehr Lücken als Schilf. Es goß immer noch wie aus Eimern. Wir jumpten an Land. Charlie verkrümelte sich irgendwohin. Als sie zurück war, hockten wir uns unter die Pelerine in das klitschnasse Gras von dieser Insel. Kann aber auch sein, es war nur eine Halbinsel. Ich bin da nie wieder hingekommen. Da fragte mich Charlie: Willst du einen Kuß von mir?
    Leute, ich wurde nicht wieder. Ich fing an zu zittern. Charlie hatte noch immer diese Wut auf Dieter, das sah ich genau. Trotzdem küßte ich sie. Ihr Gesicht roch wie Wäsche, die lange auf der Bleiche gewesen ist. Ihr Mund war eiskalt, wahrscheinlich alles von diesem Regen. Ich ließ sie dann einfach nicht mehr los. Sie riß die Augen auf, aber ich ließ sie nicht mehr los. Es wäre auch nicht anders gegangen. Sie war wirklich naß bis auf die Haut, die ganzen Beine und alles.
    In irgendeinem Buch hab ich mal gelesen, wie ein Neger, also ein Afrikaner, nach Europa kommt und wie er seine erste weiße Frau kriegt. Er fängt dabei an zu singen, irgendeinen Song von sich zu Hause. Ich stieg sofort aus. Es war vielleicht einer meiner größten Fehler, gleich auszusteigen, wenn ich was nicht kannte. Bei Charlie hätte ich wirklich singen können. Ich weiß nicht, wer das kennt, Leute. Ich war nicht mehr zu retten.
    Wir sind dann zurück nach Berlin auf demselben Weg. Charlie sagte nichts, aber sie hatte es plötzlich sehr eilig. Ich wußte nicht, warum. Ich dachte, daß ihr einfach furchtbar kalt war. Ich wollte sie wieder unter die Pelerine haben, aber sie wollte nicht, ohne eine Erklärung. Sie faßte die Pelerine auch nicht an, als ich sie ihr ganz gab. Sie sagte auf der ganzen Rückfahrt überhaupt kein Wort. Ich kam mir langsam wie ein Schwerverbrecher vor. Ich fing wieder an, Kurven zu ziehen. Ich sah sofort, daß sie dagegen war. Sie hatte es bloß eilig. Dann ging uns der Sprit aus. Wir pätschelten uns bis zur nächsten Brücke. Ich wollte zur nächsten Tankstelle, Sprit holen, Charlie sollte warten. Aber sie stieg aus. Ich konnte sie nicht halten. Sie stieg aus, rannte diese triefende Eisentreppe hoch und war weg. Ich weiß nicht, warum ich ihr nicht nachrannte. Wenn ich in Filmen oder wo diese Stellen sah, wo eine weg will und er will sie halten, und sie rennt zur Tür raus, und er stellt sich bloß in die Tür und ruft ihr nach, stieg ich immer aus. Drei Schritte, und er hätte sie gehabt. Und trotzdem saß ich da und ließ Charlie laufen. Zwei Tage später war ich über den Jordan, und ich Idiot saß da und ließ sie laufen und dachte bloß daran, daß ich das Boot jetzt allein zurückbringen mußte. Ich weiß nicht, ob einer von euch schon mal über Sterben nachgedacht hat und das. Darüber, daß einer eines Tages einfach nicht mehr da ist, nicht mehr anwesend, ab, weg, aus und vorbei, und zwar unwiderruflich. Ich hab eine ganze Zeit oft darüber nachgedacht, dann aber aufgegeben. Ich schaffte es einfach nicht, mir vorzustellen, wie das sein soll, zum Beispiel im Sarg. Mir fielen nichts als blöde Sachen ein. Daß ich im Sarg liege, es ist völlig dunkel, und es fängt an, mich grauenhaft am Rücken zu jucken, und ich muß mich kratzen, weil ich sonst umkomme. Aber es ist so eng, daß ich die Arme nicht bewegen kann. Das ist schon der halbe Tod, Leute, wer das
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