Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W
Autoren: Urlich Plenzdorf
Vom Netzwerk:
allem durch die lange Armeezeit. Er ist der Älteste in seinem Studienjahr. Ich glaube, er weiß noch gar nicht, ob Literatur das Richtige ist für ihn. Sie flüsterte so gut wie. Dann fragte sie mich: Und du? Was macht deine Laube?
    Ich fing fast automatisch mit meinem Husten an, dezent natürlich.
    Charlie sofort: Du willst doch da nicht überwintern?
    Ich sagte: Wohl kaum.
    Ich hatte diesen Husten wirklich drauf wie nichts. Dann fragte sie mich: Arbeitest du?
    Und ich: Klar. Auf dem Bau.
    Ich sah förmlich, wie das popte bei ihr. Charlie gehörte zu denen, die man fragen konnte, ob sie an das »Gute im Menschen« glauben, und die, ohne rot zu werden, »ja« sagen. Und damals glaubte sie wahrscheinlich, das Gute hätte in mir gesiegt und vielleicht, weil sie mir seinerzeit so gründlich ihre Meinung gesagt hatte.
    Wenn ich in irgendeinem Buch las, irgendeiner steht plötzlich irgendwo und weiß nicht, wie er da hingekommen ist, weil er angeblich dermaßen abwesend ist, stieg ich meistens sofort aus. Ich hielt das für völligen Quatsch. An dem Abend stand ich vor meiner Laube und wußte tatsächlich nicht, wie ich da hingekommen war. Ich mußte den ganzen Weg lang gepennt haben oder was. Ich ließ sofort den Recorder laufen. Erst wollte ich die halbe Nacht lang tanzen, aber dann fing ich an, wie ein Irrer an der Spritze zu bauen. An dem Abend war ich so sicher wie nie, daß ich mit der Spritze auf dem richtigen Weg war. Es tat mir bloß leid, daß ich nicht wirklich die Rohrzange mitgenommen hatte von Charlie. Davon war natürlich keine Rede mehr gewesen. Meine war wirklich das Letzte. Aber auf die Art hatte ich einen Grund, am nächsten Nachmittag wieder bei Charlie aufzukreuzen. Dieter war nicht da. Charlie war dabei, an dem Baldachin von einer ihrer Lampen rumzubauen. Er wollte einfach nicht halten. Sie stand auf einer Bockleiter, wie wir sie auf dem Bau hatten. So eine, auf der Old Zaremba tanzen konnte. Ich schwang mich mit auf diesen Bock, und wir bauten zusammen an dem blöden Baldachin. Charlie hielt und ich schraubte. Aber ob das einer glaubt, Leute, oder nicht, mir zitterte die Hand. Ich kriegte diese Madenschraube einfach nicht zu fassen. Immerhin hatte ich Charlie so dicht vor mir wie eigentlich noch nie. Das wäre vielleicht noch gegangen. Aber sie hielt ihre Scheinwerfer voll auf mich. Es kam so weit, daß ich hielt und Charlie schraubte. Auf jeden Fall war das für die Schraube das beste. Sie faßte endlich. Charlie und mir waren die Arme abgestorben. Ich weiß nicht, ob das einer kennt, wenn man die Arme stundenlang nach oben hält. Wer Decken streicht oder Gardinen anmacht, weiß Bescheid. Wir stöhnten im Chor und massierten uns die Arme, alles auf der Leiter. Dann fing ich an, ihr von Zaremba zu erzählen, wie er mit der Leiter tanzen konnte, und dann faßten wir uns an den Armen und wackelten auf der Leiter durch das Zimmer. Wir waren mindestens dreimal am Umkippen, aber wir hatten uns vorgenommen, bis zur Tür zu kommen, ohne abzusteigen, und wir schafften es. Ich kriegte sie dazu. Das war es eben: zu so was konnte man Charlie kriegen. Neunundneunzig von hundert Frauen hätten doch sofort gepaßt oder eine Weile rumgekreischt und wären dann abgesprungen. Charlie nicht. Als wir an der Tür waren, stand Dieter auf der Schwelle. Wir jumpten sofort von der Leiter. Charlie fragte ihn: Willst du essen?
    Und ich: Dann werd ich man gehen. Es war bloß wegen der Rohrzange.
    Ich hatte ungeheuren Schiß davor, daß er Charlie vor meinen Augen irgendwie anfaßte und sie vielleicht küßte oder was. Ich weiß nicht, was dann passiert wäre, Leute. Aber Dieter dachte überhaupt nicht daran. Er ging mit seiner Mappe zu seinem Schreibtisch. Entweder er küßte Charlie nie, wenn er kam, oder er verkniff es sich wegen mir. Ich mußte sofort an Old Werther denken, wie er an seinen Wilhelm da schreibt:
    Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal geküßt. Das lohn ihm Gott.
    Ich begriff zwar nicht, was das mit ehrlich zu tun hatte, aber alles andere begriff ich. Ich hatte nie im Leben gedacht, daß ich diesen Werther mal so begreifen würde. Außerdem hätte er Charlie auch gar nicht küssen können oder was. Sie war ziemlich schnell in der Küche. Trotzdem hätte ich natürlich gehen müssen. Ich blieb aber. Ich stellte die Leiter weg. Dann ständerte ich in dem Zimmer rum. Ich wollte ein Gespräch mit Dieter anfangen, bloß mir fiel einfach nichts ein. Plötzlich hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher