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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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ist.
    In zahllosen Varianten haben trotzdem die Begriffswelt und Interpretation der Marxschen Klassentheorie den Sprach- und Gedankenhaushalt des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst, wann und wo immer es um die Analyse und Bekämpfung Sozialer Ungleichheit ging. In der Regel setzte sich eine ökonomistische Deutung der Klassenentstehung und der Klassengegensätze durch, in dem die besitzende Kapitalistenklasse und das eigentumslose Proletariat einander gegenübergestellt wurden; in dem Fragment eines Kapitels über Klassen im «Kapital» erkannte Marx bereitwillig die rentenbeziehenden Grundeigentümer als dritte Hauptklasse an, hat diese Entscheidung aber weder in theoretische Überlegungen noch in empirische Studien umgesetzt. Zu Recht hat die Kritik darauf insistiert, dass es sich um ein asymmetrisches Herrschaftsverhältnis handelt, das von weit mehr Dimensionen geprägt ist als nur durch die ökonomische Lage. Der Besitz der Produktionsmittel oder der Ausschluss von ihnen beruht in erster Linie auf drastisch ungleich verteilten, herrschaftlich sanktionierten Verfügungsrechten, die zugleich über zahlreiche Lebenschancen und -risiken entscheiden.
    Im Vergleich mit dem Einfluss und Bekanntheitsgrad von Marx scheint es sich bei seinem deutschen Zeitgenossen Lorenz v. Stein, drei Jahrzehnte lang Ökonomieprofessor an der Universität Wien, nur um eine eher exotische Randfigur zu handeln.[ 3 ] Ein solches Urteil täte seinem intellektuellen Rang jedoch Unrecht. Stein hat nach einem längeren Frankreichaufenthalt, während dessen er die sozialtheoretische Debatte insbesondere der Frühsozialisten aufgeschlossen rezipierte, in seinem weit ausgreifenden, umfangreichen Werk auch eine elastische Klassentheorie entwickelt, um die modernen Formen der Sozialen Ungleichheit erfassen zu können. Wie seine Vorgänger band er sie an den Siegeszug des neuzeitlichen Kapitalismus, dessen Wirtschaftssystem die neuartige Klassenungleichheit hervorbringe.
    Zum einen erweist sich Steins Begrifflichkeit als weitaus flexibler als Marxens. Seine Kategorien, etwa die der besitzenden, erwerbenden, eigentumslosen Klassen, der Berufsklassen und der (auf der Homogenisierung von positionsnahen Klassen beruhenden) Gesellschaftsklassen, ermöglichen eine realitätsnahe Analyse. Sie antizipieren auch, fünfzig Jahre vor Max Weber, manche von dessen Kategorien. Zum anderen erkennt Stein zwar durchaus einen fundamentalen Gegensatz zwischen privilegierten und strukturell benachteiligten Klassen an, ist überhaupt sehr konfliktbewusst, billigt aber seinen Akteuren keine nur geschichtsphilosophisch begründbare historische Mission zu, geschweige denn den Sieg in einem endzeitlichen Armageddon des Klassenkampfes. Vielmehr plädiert Stein wegen der Härte der Antagonismen ebenso weitsichtig wie programmatisch dafür, die mächtigste menschliche Institution, den Staat, als aktiv ausgleichenden Schiedsrichter einzuschalten, um den Wohlstandsausgleich und damit den inneren Frieden zu gewährleisten. Dadurch wurde er zu einem frühen Theoretiker des modernen Sozialstaats, dem bisher die Regulierung und Zähmung der sozialen Konflikte gelungen ist.
    Man hat die Sozialstaatslehre, in seinen Worten: das Postulat eines «sozialen Königtums», auf den Einfluss der Hegelschen Staatsmetaphysik und die Tradition der bürokratischen «Revolution von oben» in Preußen zurückgeführt. Fraglos bewegte sich Stein auch in diesem Horizont, der seinen Sprach- und Ideenhaushalt eingrenzte. Doch war er zugleich auch ein freier, überaus nüchterner und weit denkender Kopf, der mangels überlegener Optionen und voller Skepsis gegenüber Endzeitutopien mit großer Überzeugungskraft der pragmatischen staatlichen Reformpolitik das Wort redete. Erst hundert Jahre später ist der gedankliche Reichtum seines weitläufigen Werkes von der Gesellschaftsanalyse und der Sozialstaatsdiskussion entdeckt, anerkannt und ausgewertet worden.
    In den fünfzig Jahren zwischen Karl Marx und Max Weber ist die Theorie der Stratifikation – seit der Jahrhundertwende drang dieser Schichtungsbegriff der Geologie in die Sozialwissenschaften ein – inhaltlich und begrifflich kaum weitergekommen. In England legte die Evolutionstheorie Herbert Spencers, die aus den funktionalen Differenzierungszwängen komplexer moderner Gesellschaften auch die sozialstrukturellen Unterschiede hervorgehen sah, allenfalls zum Teil die gedanklichen Grundlagen für die amerikanische funktionalistische Soziologie
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