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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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im Zeichen dieses Kapitalismus den Feudalismus zu überwinden, den Weltmarkt zu erschließen und erstmals eine wahrhaft globale Weltgeschichte zu initiieren. Das enthusiastische Hohelied auf die universalhistorische Leistung dieses Bürgertums erklingt 1848 im «Kommunistischen Manifest».
    Durch welches institutionelle Regelwerk, fragt Marx, gelingt es dem kapitalistisch wirtschaftenden Bürgertum, gewinnträchtige Werte zu schaffen und für sie auf dem Markt so günstige Preise zu erzielen, dass der finanzielle Akkumulationsprozess nicht nur auf Dauer gestellt wird, sondern in immer größere Dimensionen hineinwächst? Im Rahmen seiner Arbeitswertlehre hat sich Marx um eine Erklärung bemüht, diese Theorie aber völlig überlastet, denn sie soll außer der Wertschöpfung im engeren Sinn, der langlebigen Wirtschaftsentwicklung durch die Größe und Verwendung des «Mehrprodukts», den Wachstumsprozess als «erweiterte Reproduktion», die Preisbildung und auch noch die Ausbeutung und die Entfremdung des Menschen erklären. Deshalb sieht Marx in ihr den «Ausgangspunkt der Physiologie des bürgerlichen Systems», «seinen inneren Zusammenhang und Lebensprozess».
    Eingestandenermaßen schloss er sich unmittelbar an David Ricardo an, dessen «Principles» für ihn den höchstentwickelten Stand der «bürgerlichen» Politischen Ökonomie repräsentierten. Deshalb entsteht auch bei Marx der Wert etwa eines gewerblichen Produkts aus der ingeniösen Arbeitsfähigkeit des Menschen, der dem Rohstoff durch seine Fertigkeiten und Kenntnisse einen neuen Wert hinzufügt. Wenn der bearbeitete Gegenstand zu einem marktgerechten Preis veräußert wird, stecken in diesem Preis die Kosten des Rohstoffs und der Werkzeuge, vor allem aber der von menschlicher Hand hinzugefügte «Mehrwert». Von ihm wird dem Arbeiter jedoch nur ein Bruchteil zur Sicherung seines Existenzminimums ausgezahlt. Den überwiegenden Teil usurpiert dagegen der Unternehmer in einem klassischen Enteignungsvorgang, um sein Kapital – dessen Verwertungszwängen er so unentrinnbar unterliegt, dass er nur als «Charaktermaske» in einem übermächtigen anonymen Prozess fungiert – unablässig zu vermehren.
    Die Marxsche Arbeitswertlehre beschreibt daher einen ununterbrochen anhaltenden Ausbeutungsvorgang. Dadurch wird ein unüberbrückbarer Antagonismus zwischen dem kapitalistischen Unternehmer als Produktionsmittelbesitzer und Profiteur dieser Ausbeutung auf der einen Seite und dem eigentumslosen, aber den «Mehrwert» schaffenden Proletarier auf der anderen Seite konstituiert, der unwiderruflich um die Früchte seiner Leistung betrogen wird. Schon deshalb stehen sich Kapitalisten und Proletarier, durch den Besitz an (oder den Ausschluss von) Produktionsmitteln jeweils in Klassen zusammengefügt, in einem prinzipiellen, in die Struktur der Gesellschaft tief eingesenkten Antagonismus gegenüber. Diese Klassen gewinnen, indem sie das statische Ensemble einer «Klasse an sich» hinter sich lassen, im Konflikt ein Klassenbewusstsein von ihren strukturell identischen Interessen, so dass sie sich in handlungsfähige Akteure in einem klaren Bewusstsein ihrer historischen Aufgabe, in «Klassen für sich», verwandeln.
    Marx’ Überlegungen beruhen auf Giambattista Vicos profunder Einsicht, dass Menschen nicht in der Natur, sondern in einer von ihnen selbst geschaffenen Kulturwelt leben. Deshalb kann sie vom menschlichen Geist erfasst werden, der auch über wahr und falsch zu entscheiden vermag. Das wurde schon in den 1840er Jahren die wissenssoziologische Grundlage von Marx’ Theorie, die es ihm erlaubte, auch ein wahres Bewusstsein von einem falschen zu unterscheiden. Wenn Klassen mit dem «richtigen» Klassenbewusstsein agieren, verschärft eine solche Konstruktion den säkularen Klassenkampf bis hin zum Extrem der revolutionären Spannungslösung.
    Und nicht nur das: Außer der Ausbeutung sorgt dieses asymmetrische Verhältnis auch für die «Entfremdung». Gewinnt die Ricardo-Marxsche Arbeitswertlehre zeitweilig ihre Überzeugungskraft aus der anschaulichen Beobachtung kunstfertiger handwerklicher Tätigkeit, beruht das Entfremdungsdogma auf der Idealisierung einer vorkapitalistischen Gesellschaftsverfassung, die es dem wirtschaftenden Menschen angeblich gestattet, sich mit dem Arbeitsvorgang und dem schöpferischen Ergebnis seiner Tätigkeit vorbehaltlos zu identifizieren, so dass er, dem fingierten wahren Wesen des Menschen gemäß, in autonomer Lebenskontrolle
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