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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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komplizierten Fachjargon in gemeinverständlicher Sprache charakterisiert werden: Menschen können auf die Dauer nur friedlich zusammenleben, wenn sie allgemein akzeptierten Regeln folgen. Das ist eine anthropologische Konstante. Sie gilt selbstverständlich auch für jene Arena, in der sie ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen. Es war daher von vornherein ein verblendetes, realitätsfernes Unternehmen einiger Wirtschaftstheoretiker, ausgerechnet den Markt, auf dem zahllose konfliktgeladene Interessen aufeinandertreffen, als eine regelfreie Domäne zu konzipieren und ihre Durchsetzung dann politisch zu fordern. Das alles in dem durch nichts gerechtfertigten Vertrauen, dass die Wirtschaftssubjekte aus wohl verstandenem Eigeninteresse ihre Geschäfte hinreichend klug und zum allgemeinen Wohl ganz allein selber regulieren würden. Im Prinzip galt dieser Schule jeder staatliche Eingriff als Fehlgriff.
    Es bleibt ein erstaunliches Phänomen, dass so viele angeblich erfahrene Akteure in der Wirtschaft und Politik an diese Fata Morgana des komplett deregulierten Marktes geglaubt haben, die freilich einer unersättlichen Habgier und einer bedenkenlosen Bereitschaft zu fahrlässigem Verhalten optimal entgegenkam. In der neuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte gibt es kein vergleichbares zweites Beispiel einer rundum diskreditierten Berufsklasse, die derart verblendet und von nacktem Egoismus getrieben Billionen sich angeeignet, dann aber auch verbrannt und deshalb Millionen ins Elend gestürzt hat, ohne dass sie kollektiv für ihr Fehlverhalten einstehen müsste. Wen wundert es da, dass die Kritik an einem System um sich greift, das solche Exzesse nicht nur ermöglicht hat, sondern sich auch mit der Ahndung und Remedur so außerordentlich schwer tut?
    Zu den dramatischen Folgen dieser Krise gehört der Trend verschärfter Sozialer Ungleichheit. Über ihre historische Dimension zu informieren und aufzuklären ist das Ziel dieses Bandes. Wie stets bei einem solchen Überblick über Komplexphänomene trifft man auch hier auf eine Mischung von erstaunlicher Kontinuität und auffälliger Diskontinuität, die beide den historischen Prozess, oft gleichzeitig, regieren. Entgegen allen skeptischen Prognosen konnte etwa das Bürgertum nach einem deutlichen Formwandel seine Existenz behaupten. Die Industriearbeiterschaft dagegen hat der Angestelltenschaft der Dienstleistungsgesellschaft in der numerischen Größenordnung weichen müssen. Die einst größte deutsche Arbeiterklasse der sieben Millionen Landarbeiter von 1914 ist auf knapp 200.000 reduziert worden, während die anfangs winzigen Professionen der Rechtsanwälte und Ärzte für die Nutzung ihrer Machtressourcen eine stattliche Mitgliederschaft gewonnen haben.
    Hier steht die Sozialhierarchie der Bundesrepublik zur Debatte. In beiden Fällen scheint sich Max Webers Einsicht erneut zu bewähren, dass Klassen primär «Phänomene der Machtverteilung» sind. Daneben wirkt sich besonders nachhaltig das Erbe der von den Familien getragenen und weiter vermittelten Klassenkulturen aus. Die Synthese langlebiger Entwicklungsprozesse und abrupter Strukturwandlungen wird von der Hoffnung begleitet, dass sie die historischen Dimensionen der Sozialen Ungleichheit präziser zu erschließen hilft, damit aber auch Kenntnisse für das Verständnis gegenwärtiger Probleme sowie für das politische Entscheidungshandeln zur Verfügung stellt.

1.

Sozialhierarchie und Hierarchietheorien: Die Soziale Ungleichheit
    Alle historisch bekannten Herrschaftsverbände werden durch Systeme der Sozialen Ungleichheit geprägt. Immer weist ihre Sozialstruktur eine hierarchische Ordnung auf. Insofern ist das Stratifikationsgefüge von Gesellschaften eine anthropologische Konstante. Ihre spezifischen Merkmale und Unterschiede variieren in der Regel ganz so auffällig wie die vielfältigen Versuche, sie angemessen zu beschreiben, vor allem aber sie überzeugend zu erklären.[ 1 ]
    Seit der schottischen Aufklärung, die von großen Figuren wie Adam Smith, Adam Ferguson und John Millar repräsentiert wird, wurde die Sozialstruktur zum einen zum Gegenstand genauer empirischer Beschreibung. Zum anderen ging es diesen Sozialtheoretikern anstelle der bisher vorherrschenden religiösen Legitimierung um eine überzeugende realhistorische Erklärung der durchaus weltlichen Ursachen der Ungleichheit. Dieses neuartige Interesse nährte sich aus drei Wurzeln:
    1. Der Zerfall der traditionalen schottischen Clan-Verfassung,
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