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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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sowie in harmonischer Übereinstimmung mit sich, seiner soziokulturellen Umwelt und der Natur zu leben vermag.
    Die Kritik an der vermeintlichen Vergewaltigung der wahren menschlichen Natur durch die entfremdende Arbeit fiel wegen ihres fundamentalistischen Charakters besonders wuchtig aus. Marx dachte dabei ganz in den Kategorien des gemeineuropäischen Neuhumanismus, der eine ungebrochene menschliche Existenz allein im Leben des freien Vollbürgers der griechischen Polis verwirklicht sah, so dass diese idealisierende Stilisierung des antiken Bürgerlebens als normativer Maßstab für die Verfallsgeschichte entfremdeter Arbeit unter dem Joch des Kapitalismus diente.
    Die gesamte Verlustbilanz, die beim Siegeszug des Kapitalismus entsteht, wird Marx zufolge allein dem Proletariat aufgebürdet, das alle «sozialen Kosten» zu tragen hat, die im Verlauf eines progressiven Evolutionsprozesses entstehen. Diesem Hauptleidtragenden des Kapitalismus weist Marx nun, indem er offensichtlich an das eschatologisch-chiliastische Erbe der jüdisch-christlichen Tradition mit ihren Denkfiguren anknüpft, kompensatorisch eine Erlösungsaufgabe zu. Denn der unpersönliche Geschichtsprozess zugunsten des Kapitalismus kann durch die zielbewusste politische Intervention in einer letzten fundamentalen Krise durch die Revolution des organisierten Proletariats umgelenkt werden in die neue Heilsordnung der «kommunistischen Gesellschaft» der Gleichen, Freien und Gerechten. Über diese Zukunftsgesellschaft hat Marx sich zwar nur spärlich geäußert, dann aber stets als Vision von einer Renaissance des nicht entfremdeten Lebens wie in der antiken Polis – eine eigentümlich anachronistische, nostalgische Utopie vollendeter Moderne im Horizont eines neuhumanistisch geprägten deutschen Bildungsbürgers.
    Die Kritik von Marx’ Lehre hat längst grundlegende Annahmen seiner Klassentheorie ausgehebelt. Die Mehrwertlehre wurde durch die Preistheorie der Wiener Nationalökonomie ad acta gelegt. Indem alle Produktionsfaktoren einschließlich der menschlichen Arbeitskraft als käufliche Ware mit eindeutig fixierten Preisen behandelt werden, kann eine nüchterne Preiskalkulation den je nach Marktlage realisierbaren Gewinnaufschlag und Verkaufspreis entwickeln, ohne auf diesen mystifizierten Mehrwert (der erst Recht bei maschineller Fabrikproduktion nicht einmal tendenziell zu errechnen ist) und auf seine Beschlagnahmung rekurrieren zu müssen. Der alte Engels hat auf eine einnehmend undogmatische Weise die Schlüssigkeit der modernen, auch das «Humankapital» umfassenden Preistheorie bereitwillig anerkannt.
    Der Entfremdungslehre liegt ein humanistisches, hochgradig normativ besetztes Ideal menschlicher Existenz zugrunde. Tatsächlich aber ist die menschliche Natur so anpassungsfähig, dass sie extrem unterschiedlichen Arbeitsbelastungen, ob in der vorkapitalistischen oder der kapitalistischen Zeit, gewachsen ist oder aber gegen die Überforderung durch Sklavenarbeit oder Fließbandmonotonie wegen der krassen Verletzung kulurspezifischer Belastungsstandards aufbegehrt. Eines ahistorischen Maßstabs nicht entfremdeten Lebens, das durch die Aufhebung des privaten Produktionsmittelbesitzes wieder gewährleistet sein soll, bedarf es für eine schlüssige Kritik an den Zumutungen des Arbeitsprozesses nicht. Wer indes an diese Marxsche Lehre glaubte, konnte ein klares Feindbild kultivieren, an einer finalen Veränderung festhalten und mit politischen Aktionen für sie eintreten. Gerade ihre Simplizität vermochte dynamische Mobilisierungskräfte zu entbinden.
    Die historische Mission des Proletariats als eines kollektiven Erlösers und Promotors eines säkularisierten Paradieses ist durch die Geschichte seit Marx radikal widerlegt worden. Diese Kritik schließt zum einen die Anerkennung nicht aus, dass die von der marxistischen Kampflehre inspirierte organisierte Arbeiterbewegung in den westlichen Industriestaaten gravierende Defizite der kapitalistischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu korrigieren, auch den modernen Sozialstaat mit heraufzuführen geholfen hat, sobald sie sich aus einer zivilreligiösen Protestbewegung in den europäischen Normaltypus der reformorientierten Sozialdemokratie verwandelt hat. Zum anderen hat aber der Glaube an die Marxsche Theorie welthistorische Folgen gezeitigt, da er zum Experiment des überall gewaltsam etablierten diktatorialen Staatskommunismus führte, der nach barbarischen Kosten fast überall gescheitert
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