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Hütet euch vor Harry

Hütet euch vor Harry

Titel: Hütet euch vor Harry
Autoren: Jason Dark
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Harry mußte in den Keller. Harry haßte den Keller. Er haßte die Dunkelheit, in der sich nichts bewegte, die aber wie ein Mantel war, der den Schrecken nur für kurze Zeit verbarg.
    Denn zwischen den feuchten Mauern versammelte sich alles, was sonst nur in seinen Träumen sichtbar wurde.
    All die fürchterlichen Gestalten, die Geister, die Monster, die Wesen aus einer Mischung zwischen Tier und Mensch, die fressenden Ungeheuer, die immer hungrig waren und die Knochen der Opfer mit ihren langen Reißzähnen zermalmten.
    Ja, sie lauerten dort.
    Und Harry wußte es. Deshalb hatte er Angst. Er hatte nie weiter darüber nachgedacht. Es konnte auch sein, daß er vor etwas anderem Angst hatte, vor sich selbst, vor der eigenen Furcht und vor seiner Phantasie, die diese Schreckensbilder schuf.
    Er war wie immer barfuß, wie immer trug er die Lumpen. Er stank nach Keller und Abfall. Er war einer, den man trat, den man scheuchte, dessen Willen man brach. »Geh endlich, Harry!«
    Er hörte die keifende Stimme seiner Mutter.
    Er haßte sie. Nicht nur die Stimme, die so schrill klang. Er konnte seiner Mutter keine Liebe entgegenbringen, denn sie war es schließlich, die ihm diese fürchterlichen Träume brachte, wenn sie wie ein Moloch aus der Tiefe hochstieg und sich als schauriges Wesen mit langen Krakenarmen präsentierte, die alles umfingen – auch ihn.
    Sie hatte den Befehl nur einmal gegeben und sich dann abgedreht. Er hörte ihre Schritte verklingen und blieb an der Kellertür stehen. Harry wußte nicht, ob die Stufen der Treppe aus Lehm oder Steinen bestanden, wahrscheinlich aus beidem.
    Sein Blick glitt nach unten. Dort schwamm in der tiefen Dunkelheit ein heller Fleck. Abgegeben wurde er von einem einsamen Öllicht, das aber nur die wenigsten der tiefen Schatten vertreiben konnte. Sie hatten sich dort unten eingenistet, waren immer da, lauerten auf die, die in den Keller gingen.
    So wie Harry.
    Es gab keinen besonderen Grund, weshalb ihn die Mutter losgeschickt hatte. Er hatte aufräumen sollen, mehr nicht. Nichts holen, nichts anstreichen, nur aufräumen.
    Er kannte auch den Grund. Sein Gesicht verzog sich, als er daran dachte. Sie wollte ihn nicht sehen, sie wollte, daß er ihr aus den Augen ging. Vielleicht kam wieder einer der Männer zu ihr. Seine Mutter kannte viele davon, sehr viele.
    Sie brachten oft Wein und Schnaps mit, aber auch Geld, und er hatte sie mit den Männern zusammen lachen hören, während er vor die Tür oder in den Keller geschickt wurde.
    Seine Mutter haßte ihn. Sie hatte ihn nie gewollt. Sie hatte auch davon gesprochen, daß er nicht mehr lange bei ihr bleiben würde, daß er einmal weg müßte.
    Für immer weg…
    Harry zog die Nase hoch. Das Gefühl, weinen zu müssen, war sehr stark. Es schuf einen Druck in seiner Kehle, ebenso wie der Druck hinter den Augen, die sich allmählich mit Feuchtigkeit füllten. Harry war nicht verhärtet, er konnte weinen, und manchmal brach es aus ihm hervor.
    Aber nicht jetzt, er wollte sich zusammenreißen und ging die breiten Stufen hinab.
    »Bist du im Keller?«
    Auf halbem Weg erreichte ihn die Stimme seiner Mutter, und Harry zuckte zusammen. »Bist du im Keller?«
    »Ja…«
    »Gut, Harry, gut!« hörte er nach einer kleinen Pause. »Dann bleibe auch dort, hast du gehört? Du mußt dort bleiben, bis ich dich rufe, Harry!«
    »Ja, Mutter!«
    »Das ist schön, das ist sehr schön!« Er hörte sie lachen. Diesmal klang es nicht gemein, sondern fröhlich und heiter. Sie schien gute Laune zu haben. Wahrscheinlich wartete sie wieder auf einen der Männer, denn das kam immer öfter vor.
    Er konnte genau sehen, wo die Treppe endete, denn genau dort hörte auch der bläuliche Schein des Öllichts auf. Er bildete praktisch eine Grenze mit der letzten Stufe.
    Harry hatte sie bald erreicht. Er hörte seine eigenen Schritte, wie sie über die Stufen kratzten. Er wußte auch, daß hier unten zahlreiche Tiere lebten. Käfer, Würmer und Insekten. Sie verkrochen sich in den Spalten und Rissen, und oft fühlte er sich auch wie ein solches Tier, denn er mußte sich ebenfalls immer verkriechen und den Menschen aus dem Weg gehen, besonders seiner Mutter.
    Aber vor den Ratten konnte er sich nicht verkriechen. Sie lebten nicht nur im Keller. Er hatte sie schon im Haus gesehen, und in der Nacht hörte er oft genug das Trappeln ihrer Füße, wenn sie durch ein Zimmer huschten oder mal an den Wänden kratzten und nagten. Sie waren immer da, besonders aber im Keller.
    Harry
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