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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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Ordnung erodierte.
    Die Aufmerksamkeit richtete sich zusehends auf die neue Sozialfigur des «eigentumslosen Proletairs», der zur Fristung seines kärglichen Lebens seine Arbeitskraft in einem nur formal freien Kontrakt verkaufen musste. Im nächsten Durchgang rückte dann sein Gegenpol, der marktwirtschaftlich operierende bürgerliche Unternehmer, der «reiche Bourgeois», der «Fabrikaristokrat», als Angehöriger einer überlegenen Klasse in den Vordergrund. Man kann an der Lektüre des jungen Hegel, der sowohl mit der schottischen Aufklärung als auch mit der französischen und deutschen Debatte eng vertraut war, genau ablesen, wie aufgeschlossene Intellektuelle sich damals mit den sozialen Folgen der kapitalistischen Marktwirtschaft auseinanderzusetzen bereit waren. In der Regel überwog eine skeptische Distanz, die angesichts der harschen Züge der heraufziehenden neuen Zeit nicht zu überraschen vermag, aber in anderer Form in der sozialkritischen, frühsozialistischen Debatte in Frankreich, welche sogleich rezipiert wurde, ebenfalls auftrat.
    Daher gab es im späten Vormärz, in den 1840er Jahren, über die Veränderung der Sozialhierarchie eine gemeineuropäische Diskussion, in der die neuen analytischen Begriffe frühzeitig in Umlauf gebracht und einige grundsätzliche sozialtheoretische Entscheidungen bereits gefällt wurden. Es ist dieser real- und begriffsgeschichtliche Kontext vor der 48er Revolution, in dem der junge Linkshegelianer Karl Marx und der junge Rechtshegelianer Lorenz v. Stein ihre Theorien der Sozialen Ungleichheit im Rahmen einer philosophisch fundamentierten Gesellschaftsanalyse entfalteten. Zweifellos hat die Marxsche Klassenlehre, die auch als zentraler Bestandteil seiner politischen Theorie, seiner Zeitdiagnose und seiner Utopie einer künftigen Gesellschaft fungierte, eine welthistorische Bedeutung gewonnen. Ihre Wirkung geht daher über die übliche Einflusszone wissenschaftlicher Theorien weit hinaus.
    Die Charakterisierung der Marxschen Klassentheorie wird nicht nur dadurch erschwert, dass Marx ein wahres Sammelsurium von nicht weniger als vier Dutzend vielfältig nuancierten und schillernden Klassenbegriffen verwendet hat.[ 2 ] Vielmehr wird seine Theorie auch dadurch belastet, dass sie mit seinem Ausbeutungsaxiom, seiner Entfremdungslehre und seiner säkularisierten Geschichtstheologie befrachtet ist. Außerdem verficht Marx zum einen einen universalhistorische Gültigkeit beanspruchenden Klassenbegriff, zum anderen aber auch einen auf den entwickelten Kapitalismus zugeschnittenen engeren Klassenbegriff. Wegen der eminenten Folgen müssen die Grundzüge seiner Konzeption klargestellt werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil der folgende Überblick (entgegen manchen noch immer existierenden Erwartungen oder Befürchtungen) nicht auf den Marxschen Kategorien beruht.
    Marx geht von der Prämisse aus, dass der Produktionsprozess «im Stoffwechsel mit der Natur», der die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und die Sicherung der Existenz ermöglicht, den Kern des gesellschaftlichen Lebens konstituiert. In der europäischen Geschichte wird der Produktionsprozess zunehmend, davon ist Marx ganz so fasziniert wie später auch Max Weber, vom Siegeszug des Bürgertums bestimmt. Mit ihm entsteht eine neuartige Sozialformation, die wirtschaftliche Autonomie auf der Basis privater Eigentumsrechte gewinnt, die politische Selbstverwaltung in den Bürgerstädten ausübt, den Nah- und Fernhandel, die gewerbliche Produktion und die kommerzialisierte Landwirtschaft kontrolliert sowie im Verlauf der sog. «ursprünglichen Akkumulation» investitionsgeeignetes Kapital ansammelt, das hier aus Fernhandelsprofiten, dort aus der Enteignung englischer Bauern oder aus dem Ausbeutungsgewinn in der seit dem 16. Jahrhundert erschlossenen überseeischen Welt stammt, der das Schwungrad der wirtschaftlichen Entwicklung zwar nicht in Gang setzt, doch mächtig vorantreibt. Marx datiert daher auch den Beginn seiner «kapitalistischen Ära» auf etwa 1500. Seither setzt sich nach seiner Überzeugung das auf der Kapitalverwertung durch bürgerliche Unternehmer beruhende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des «Kapitalismus» durch, das er von Anfang an aufgrund seiner historisch beispiellosen Kapazität als eine global durchsetzungsfähige Innovation verstanden hat. Insofern ist Marx einer der frühen Theoretiker der Globalisierung.
    In den 350 Jahren bis zur Epoche des jungen Marx gelingt es dem Bürgertum,
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