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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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während ich geblendet weiterging und weiter versuchte, ruhig, langsam und sicher
aufzutreten, aufzutreten auf dem noch feuchten Kies, in dem ich jeden einzelnen Stein zu erkennen glaubte, dachte ich immer nur, dass es nichts sei, dies hier, gar nichts, nichtiges Gehen, sonst nichts, und so ging ich mit diesem verschleppten Gang hinter dem auf dem kleinen Karren vor mir dahinschwankenden Eichensarg her, in dem die Leiche meines Vaters liegen musste.
    Ich konnte mich in diesen Momenten nicht an meinen Vater erinnern, ja, ich versuchte es nicht einmal, sondern ging, wie ich mir befahl, nur langsam und ruhig hinter dem Sarg her und versuchte, alle Erinnerungen aus meinen Gedanken fortzuschaufeln, um nichts, rein gar nichts zu empfinden. Nein, dachte ich nur, in diesem Sarg liegt nicht die Leiche meines Vaters, nein, mein Vater ist irgendwo, jedenfalls nicht in diesem Sarg, wie sollte er denn auch in diesen Sarg gelangt sein, wer hätte ihn hineingelegt, und wenn überhaupt…, dann hätte er ja zuvor gestorben sein müssen. Neinnein, dachte ich weiter, natürlich ist Vater nicht gestorben, noch nicht jetzt, irgendwann wird er sterben, aber noch lebt er ja, er lebt…

Das Weiterleben der Moselreise

    Seit der Veröffentlichung des Romans »Abschied von den Kriegsteilnehmern« im Jahr 1992 sind nun wiederum fast zwei Jahrzehnte vergangen, und doch kann ich nicht behaupten, dass mich die Erfahrungen der beiden Moselreisen und all der Schreibprojekte, die sich an diese Reisen anschlossen, nicht weiter prägen würden. Nein, ganz im Gegenteil, je älter ich werde, umso stärker nehme ich wahr, wie stark all mein Notieren und Schreiben noch an diese früheren Reisen gebunden ist.
    Zum einen erkenne ich diese engen Bindungen daran, dass ich noch heute in genau derselben Manier wie in meinen Kinderjahren notiere und skizziere. Das große, unveröffentlichte Schreibprojekt der täglichen Aufzeichnungen erscheint mir inzwischen sogar als mein eigentliches Schreibprojekt oder »Hauptwerk«, aus dem immer wieder Teilprojekte in Form von Romanen, Erzählungen, Essays, Reportagen oder Artikeln hervorgehen. Insofern arbeite ich in meiner jetzigen Schriftsteller-Werkstatt genau wie das kleine, frühere Kind an der Mosel: Unaufhörlich werden Notate gesammelt und später zu einem durchgearbeiteten »Werk« komponiert. Das längste dieser ersten »Werke«
war »Die Moselreise«, die dann wiederum die Vorlage für kleinere Erzählungen bildete.
    Zum anderen kann ich die engen Bindungen an diese frühen Erfahrungen aber auch an der Art und Weise erkennen, wie ich heutzutage noch immer reise. Dieses »Reisen« verläuft nämlich nach seltsamen Regeln und stützt sich auf Vorlieben, die ich in meinem weiteren Leben wohl kaum noch einmal werde verändern oder gar ablegen können.
    Eine erste Regel betrifft die Langsamkeit des Reisens, und sie hat konkret für mich zur Folge, dass ich noch immer am liebsten größere Strecken zu Fuß gehe. Selbst das Fahrradfahren verläuft mir oft zu schnell, ganz zu schweigen vom Autofahren. Mit dem Zug ist das Reisen dagegen möglich, wohl auch deshalb, weil ich als Kind sehr viel mit dem Zug und niemals mit dem Auto unterwegs war. Zugfahren bedeutete: Mit einem Vater zu reisen, der als Vermessungsingenieur für die Deutsche Bundesbahn arbeitete und daher viele Details der Strecken und Maschinen sehr genau kannte und sich auf den Bahnhöfen mit anderen Mitarbeitern der Deutschen Bundesbahn unterhielt. Zugfahren war also Teil des elterlichen Kosmos und keineswegs etwas Fremdes, es war, als sei man ununterbrochen mit guten Verwandten unterwegs, die einem auf jedem Bahnhof und von jeder Lok aus zuwinkten und daher in enger Verbindung zu einem standen.
    Eine zweite Regel betrifft das Koordinaten-Netz jener Städte und Landschaften, in denen ich mich zu Hause fühle. Diese Regel wiederum hat ganz konkret für mich zur Folge, dass ich mich nicht allzu weit von diesen Städten und
Landschaften entfernen darf. Jede Stadt oder Landschaft, die ich zum ersten Mal betrete, unterziehe ich gleichsam einem inneren Test: Wie nahe kommt sie meinen Heimatstädten und Heimatlandschaften, was macht sie für mich also »heimatlich« oder »fremd«?
    Ein Aufenthalt in fremden oder sogar sehr fremden Städten ist für mich nur schwer möglich, und so breche ich länger geplante Aufenthalte in solchen Städten denn auch meist nach nur wenigen Tagen wieder ab. Eine der für mich fremden, ja sogar sehr fremden Städte ist zum
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