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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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hinauf.
     
    Zum Schluss habe ich gesagt, dass ich das alles noch genauer aufschreiben werde, und zwar, wie Papa immer sagt: »ganz genau«. Und genau das habe ich jetzt auch getan, in Köln habe ich alles ganz genau aufgeschrieben, und es ist nun ein langer Bericht von unserer wunderschönen Moselreise geworden, »ganz genau« und in allen Einzelheiten.

Die Wiederholung der Moselreise

1
    Die Moselreise im Sommer 1963 war die erste längere Reise, die ich allein mit meinem Vater unternahm. Sie hinterließ in der Geschichte unserer Familie so auffällige und merkwürdige Spuren, dass es sich lohnt, diese Spuren noch ein wenig weiterzuverfolgen.
    Die erste, sichtbarste Spur war natürlich die hier erstmals gedruckt vorliegende Reise-Erzählung, die ich nach unserer Rückkehr nach Köln aus all den vielen während der Reise gemachten Notizen komponierte. Ich schenkte sie schließlich meinen Eltern, und ich erlebte schon bald, dass dieses Geschenk auf sie einen außerordentlich starken Eindruck machte. Immer wieder lasen beide Eltern darin, und immer wieder kreisten die Gespräche um Themen und Motive dieser Erzählung.
    Zwar erfuhr ich als Kind nicht genau, was meine Eltern an meinem Text so beeindruckte, doch konnte ich späteren Kommentaren entnehmen, dass mein Vater die Moselreise vor allem deshalb als einen Erfolg betrachtete, weil ein Reisen in genau dieser Form mir offensichtlich viel von der immer virulenten Angst vor der Fremde und allem Unvertrauten nahm.

    Als kleines Kind hatte ich mich nämlich viele Jahre tagsüber mit der Mutter in einem nur sehr begrenzten Terrain im Norden Kölns aufgehalten. An den Vormittagen waren wir spazieren gegangen oder hatten kleinere Einkäufe gemacht, die übrige Zeit aber waren wir meist in der Wohnung geblieben. Meine Mutter hatte sehr viel gelesen, von Beruf war sie Bibliothekarin, und ich hatte in den vielen Bilderbüchern und all den Kinderzeitschriften und Zeitungen geblättert, die der Vater an den Abenden oft mit nach Hause brachte.
    Seit dem vierten Lebensjahr hatte ich darüber hinaus Klavier gespielt und viele Stunden des Tages mit Klavierüben verbracht. Diese Tätigkeit hatte mich noch enger an die Wohnung und das vertraute Haus gebunden, so dass ich schon bei geringer Entfernung von diesem Zuhause oft unruhig geworden war und zu fremdeln begonnen hatte. Immer wieder hatte ich mich in solchen Momenten nach zu Hause zurückgesehnt, so dass mein Widerwille, mich in fremden Terrains zu bewegen, zu einer starken Belastung für die ganze Familie geworden war.
    Mit dem Vater zu reisen und mit ihm zusammen die Fremde zu erleben - dieses Vorhaben entwickelte sich während der Moselreise dann aber zu einem überraschend geeigneten Mittel, um mir das Unbehagen an jeder Form von Fremde zu nehmen. Dazu gehörte zum einen ein nicht zu rasches Reisetempo, das eine genaue, geduldige und daher beruhigende Beobachtung der Umgebung ermöglichte, zum anderen aber vor allem das Schreiben und Notieren, das mir während eines Tages immer wieder erlaubte, mich in meine eigene Gedankenwelt zurückzuziehen.

    Es war wohl genau diese zentrale Beobachtung, die meine Eltern während ihrer Lektüre der Moselreise machten: dass das ununterbrochene Notieren mir den Kontakt zu mir selbst und zu den vertrauteren Räumen erhielt, ja dass das Notieren mir eine Art mobiles Zuhause bescherte, in dem ich mich gerade dann aufhalten konnte, wenn die Eindrücke der Fremde unübersichtlicher wurden und mich zu irritieren begannen.
    So gelang das Reisen nur, wenn es gleichsam einen steten Ausgleich zwischen den Fremderfahrungen und den Eigenerfahrungen gab. Die Fremderfahrungen mussten durch die vielen Notate und Aufzeichnungen an das, was ich bereits kannte oder worüber ich bereits nachgedacht hatte, zurückgebunden werden, sie mussten sich also Schritt für Schritt in »Eigenerfahrungen« verwandeln lassen, um ihre übermächtige und bedrohliche Wirkung zu verlieren.
    Das Notieren und Schreiben diente dieser Bewahrung und führte mit der Zeit dann auch wahrhaftig zu einer Entkrampfung: Die unterschwellig stets vorhandene Angst gegenüber dem Fremden ließ nach und verwandelte sich in ein vorsichtiges Zutrauen, das mir allmählich sogar erlaubte, nicht nur mit fremden Räumen, sondern auch mit fremden Menschen Kontakt aufzunehmen.

2
    Da die Moselreise als Projekt einer gemeinsamen Reise von Vater und Sohn ein solcher Erfolg geworden war, wiederholten wir Reisen dieser Art von nun an in jedem Jahr.
So
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