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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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reiste ich mit meinem Vater an den Bodensee und nach Berlin, und so fuhren wir zusammen nach Salzburg, Wien und Paris. Immer wieder wurde dabei für ein eher langsames Reisetempo gesorgt, und immer wieder schrieb ich nach unserer Rückkehr eine ausführliche Reise-Erzählung, die nach dem Vorbild der Moselreise als chronologische Erzählung mit eingeschobenen Reflexionen und Text-Stationen komponiert war.
    Die letzte Reise, die wir kurz vor meinem Abitur zusammen machten, bildete dann den Höhepunkt all dieser Unternehmungen. Es handelte sich um eine mehrwöchige Schiffsreise, die von Antwerpen aus an der Westküste Europas entlang durch den Golf von Gibraltar bis nach Griechenland und schließlich nach Istanbul verlief. Der lange, ruhige Aufenthalt an Deck, die vielen Stationen, an denen wir an Land gingen und die schönen Hafenstädte des Mittelmeerraumes kennen lernten - dieser Rhythmus stellte sich schließlich als der ideale Rhythmus unserer besonderen Form des Reisens heraus. Einerseits erlaubte er nämlich den Rückzug auf sich selbst und damit auf das Schreiben, Notieren und Lesen, andererseits aber sorgte er auch für kurze, höchstens ein paar Tage lange Abwechslungen und ein reiches Beobachtungsmaterial während der Aufenthalte in den Hafenstädten.
    Die Mittelmeerreise war dann auch der Titel der letzten Reiseerzählung, die ich über die Reisen mit meinem Vater schrieb. Danach reiste ich mit Freunden oder allein, und wieder einige Zeit später nahm ich den Kampf mit der Fremde noch etwas beherzter auf, indem ich längere Zeit in
Rom wohnte, um dort sogar die Möglichkeit eines dauerhaften Existierens in der Fremde zu erproben.
    Von den Besonderheiten dieser römischen Tage habe ich in meinem autobiographischen Roman Die Erfindung des Lebens ausführlich erzählt, während ich die vielen Reisen mit meinem Vater in diesem Roman kaum erwähnt habe. Vor allem habe ich aber bisher weder in diesem Roman noch anderswo einmal davon gesprochen, dass ich viele der gemeinsam mit meinem Vater gemachten Reisen später noch einmal allein gemacht habe. Von diesen Merkwürdigkeiten der Wiederholung will ich deshalb an dieser Stelle noch kurz erzählen, um die besondere Bedeutung der Moselreise für mein weiteres Leben und Schreiben zumindest anzudeuten.

3
    Als mein Vater Ende der achtziger Jahre starb, war dieser Verlust für mich nur schwer zu ertragen. Ich erlebte ihn als einen starken Einschnitt, der mich zeitweise wieder in die hilflosen Verhaltensformen meiner stummen Kindheit zurückversetzte. Ich gab die meisten Kontakte zu Freunden und anderen Bekannten auf, und ich wohnte wieder monatelang an den alten, vertrauten Orten meiner Kindheit und Jugend, in denen ich zusammen mit den Eltern lange Zeit in den geschlossenen Bezirken der Familienphantasien gelebt hatte.
    All diese Bezirke wieder für längere Zeit zu verlassen, erschien mir damals beinahe unmöglich. Die Erinnerungen an den Vater und die Präsenz des Gestorbenen waren teilweise
so übermächtig, dass ich nicht einmal daran dachte, mich aus den Welten und Räumen, in denen ich zusammen mit ihm gelebt hatte, auch nur wenige Tage oder Schritte hinaus zu bewegen.
    Das aber änderte sich, als ich durch einen Zufall wieder auf das Manuskript der Moselreise stieß. Ich las es von der ersten bis zur letzten Seite erneut durch und bemerkte, dass sich während der Lektüre eine starke Sehnsucht nach Wiederholung genau dieser Reise einstellte. Ich wollte wieder von Koblenz nach Trier reisen, und ich wollte in genau jenen Orten Station machen, in denen ich zusammen mit dem Vater Station gemacht hatte.

4
    Wenig später habe ich diese Reise dann auch wirklich wiederholt. Wie in den Kindertagen habe ich in Koblenz mit meinen Notaten begonnen: Ich bin zum Rhein gegangen und habe mich auf eine Bank gesetzt, ich habe die Steine über den Fluss flitzen lassen, und ich bin hinauf, zum früheren Hotel »Rittersturz«, gefahren, das längst abgerissen und dessen Gelände in eine Aussichtsterrasse verwandelt worden war. Schon während dieses ersten Tages bestätigten sich meine Vermutungen: Der Sehnsucht nach der Wiederholung der Reise lag die Sehnsucht nach dem Zusammensein mit dem verlorenen Vater zugrunde.
    Indem ich die Reise wiederholte, verlor die Präsenz des Gestorbenen nun aber viel von ihrer bisherigen Statik und
Schwere und wurde immer mehr zu einem intensiven Austausch und schließlich sogar zu einer Art von Gespräch. Eine Voraussetzung für dieses Gespräch
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