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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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zurückgelegt hatten, ebenfalls mit dem Schiff zurücklegte, oder dass ich das Stück, das wir mit
dem Fahrrad bewältigt hatten, ebenfalls mit dem Fahrrad bewältigte. Darüber hinaus übernachtete ich, wann immer das noch möglich war, in denselben Quartieren wie während der früheren Fahrt, ja ich versuchte sogar, dieselben Speisen in denselben Wirtschaften zu essen.
    Nur eine einzige Abweichung von der ersten Moselreise erlaubte ich mir kurz vor dem Ende der zweiten. Diese Abweichung hatte mit dem Schriftsteller Stefan Andres zu tun, dessen autobiographischen Roman »Der Knabe im Brunnen« ich selbstverständlich auch während der zweiten Reise wieder gelesen hatte.
    Seit der ersten Reise hatte ich aber noch viele andere Werke von Stefan Andres gelesen, ja ich hatte es nach meiner Ankunft in Rom Ende der sechziger Jahre sogar gewagt, den damals ebenfalls in Rom lebenden Stefan Andres anzuschreiben und ihn um eine Begegnung zu bitten.
    Stefan Andres hatte mir sehr freundlich geantwortet und mich in seine römische Wohnung eingeladen. Zugleich hatte er mir jedoch auch mitgeteilt, dass er sich vor unserer Begegnung einem kleineren operativen Eingriff unterziehen müsse. Er schien diesen Eingriff nicht sonderlich ernst zu nehmen, denn er verabredete sich mit mir zu einer genau angegebenen Stunde einige Tage nach der Operation.
    Dann jedoch erhielt ich die Nachricht, dass Stefan Andres an dem operativen Eingriff gestorben sei. Während meiner römischen Tage konnte ich ihn also nicht mehr besuchen, sondern ihm nur noch an seinem Grab auf dem Campo Santo Teutonico direkt neben der Peterskirche die letzte Ehre erweisen.

    An all diese Erlebnisse erinnerte ich mich, als ich während der zweiten Moselreise zuletzt in Traben-Trarbach in den Zug stieg und an das frühere Endziel der Reise, nach Trier, fahren wollte. Diesmal aber fuhr ich nicht direkt von Traben-Trarbach nach Trier, sondern stieg in Schweich aus. In Schweich besuchte ich das Kulturzentrum Niederprümer Hof , in dem sich eine Ausstellung mit Bildern, Fotografien, Dokumenten und Büchern von Stefan Andres befand. Der sehr freundliche Kustos, der mich damals führte, wusste natürlich auch, wie ich das Geburtshaus des Dichters, eine frühere Mühle im Tal der Drohn, finden konnte.
    Ich fand die alte Mühle dann wahrhaftig, sie war bewohnt, und auch ihre Bewohner waren so freundlich, dass sie mich schließlich sogar zu dem Brunnen führten, in dessen dunkle Tiefe der junge Stefan Andres früher schaudernd und erschrocken hinuntergeschaut hatte, um im Spiegelbild des Wassers das Bild eines fremden Jungen zu entdecken, der ihn in die Tiefe ziehen wollte.
    Damals, kurz vor dem Ende meiner zweiten Moselreise, stand ich also vor dem Andresschen Brunnen und schaute in seine Tiefe. Kaum eine halbe Stunde später notierte ich, wieder nach Schweich zurückgekehrt, auf dem Wege nach Trier:
    Der Knabe im Brunnen
    Ich habe in den Brunnen geschaut, und ich bin erschrocken. Ich bin nicht mehr der Bub meines Vaters, sondern ein Mann von beinahe vierzig Jahren. Ich habe diesen Mann von beinahe vierzig Jahren ganz deutlich erkannt, ja, genau, ich habe
das Gesicht und das Aussehen eines Mannes von beinahe vierzig Jahren. Mit diesem Gesicht und diesem Aussehen werde ich jetzt ohne meinen lebenden Vater leben müssen, ohne den lebenden, aber nicht ohne den toten. Ich werde meinen toten Vater nicht vergessen, nein, ich werde weiter mit meinem toten Vater leben. Wir werden den Rest meines Lebens gemeinsam erleben, mein Vater und ich, und wir werden das gemeinsam mit der Mutter tun, mit der Mutter, ja, genau, gemeinsam mit der noch lebenden Mutter. So wird unsere Familie noch ein gutes Stück Leben zusammenbleiben, und ich werde der Aufschreiber dieses gemeinsamen Familienlebens sein.

6
    Kurze Zeit nach meiner zweiten Moselreise, die mir so wichtige Hinweise für mein weiteres Leben und Schreiben gegeben hatte, ging ich wieder für längere Zeit nach Rom. Dort habe ich mich seit meinem ersten Aufenthalt Ende der sechziger Jahre immer wieder geborgen und aufgehoben gefühlt. In Rom setzte ich das ununterbrochene Gespräch mit meinem Vater fort, und in Rom mündete dieses Gespräch dann in die Arbeit an einem Roman, in dem ich von meinem Vater Abschied nahm.
    Dieser 1992 erschienene Roman hieß »Abschied von den Kriegsteilnehmern«, und er begann so:
     
    … Als ich aber aus der kleinen Leichenhalle des Dorfes ins Freie trat, schlugen mir die Sonnenstrahlen gerade ins Gesicht, und
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