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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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vielleicht ...»
    «Ich fahre aber nicht nach Hause.
Ich habe nur achtundvierzig Stunden, und bis dort hinauf braucht
man, wie Sie wissen, einen ganzen Tag.»
    Pilly seufzte. Dr. Sonderstrom hatte
sich wahrscheinlich doch getäuscht. Wahrscheinlich hatte auch sie selbst sich
getäuscht.»Wenn sie ein Dinosaurierzahn wäre, dann würden Sie nach ihr suchen»,
sagte sie. «Aber sie ist keiner. Sie ist Ruth!»
    Sie hielt den Wagen vor der Kaserne
an. Quin griff nach seinem Seesack und ließ ihn wieder fallen. «Also gut,
Pilly. Zeigen Sie mir den Brief.»
    Aber als Pilly wenig später mit dem
Brief in der Hand in die Offiziersmesse kam, sah sie, daß Ruth verloren hatte.
Quins Gesicht war bleich. Er starrte auf ein Telegramm in seiner Hand.
    «Gott sei Dank, daß wir hier
vorbeigeschaut haben», sagte er. «Meine Tante ist plötzlich erkrankt. Ich muß
sofort zu ihr fahren.»
    Er reichte ihr die Nachricht, die
mit der Post für die Vigilantes auf ihn gewartet hatte:
    Bitte umgehend Station drei
Städtisches Krankenhaus Newcastle kommen. Dringend. Somerville.
    Es war unmöglich, in dem überfüllten Zug zu schlafen; es
gab nichts zu essen und nichts zu trinken. In den sich endlos dahinschleppenden
Stunden konnte er nichts tun, als sich daran erinnern, was seine Tante zu ihren
Lebzeiten alles für ihn und Bowmont getan hatte; sich klarzumachen, wie sehr
ihr Tod ihn treffen würde.
    Um zehn Uhr morgens trafen sie in
Newcastle ein, und er fuhr mit einem Taxi direkt zum Krankenhaus. Als er am
Empfang das Telegramm vorzeigte, wies man ihn in den ersten Stock hinauf. Eine
Schwester kam ihm oben entgegen. «Ah, ja, wir haben Sie schon erwartet. Jetzt
ist zwar keine Besuchszeit, aber ich weiß, es liegen besondere Umstände vor.
Kommen Sie, ich bringe Sie ins Zimmer.»
    Quin versuchte, sich zu wappnen, als
er ihr zur Tür eines Wartezimmers folgte, die sie öffnete. Aber Tante Frances
war nicht krank, und sie war ganz eindeutig quicklebendig. Als sie ihn sah,
stand sie auf und eilte ihm entgegen – und sie lachte. Das war nicht das stets
etwas widerstrebende Lächeln, das er von ihr kannte, das war ein strahlendes
Lachen der Heiterkeit und der Belustigung.
    «Gott sei Dank, daß du da bist!» Sie
umarmte ihn. «Aber mach dir keine Sorgen», sagte sie. «In ein paar Tagen
verliert es sich. Nicht wahr, Schwester?»
    Die Schwester stimmte zu.
    «Was soll das heißen? Was verliert
sich?» fragte Quin verwirrt. «Die Ähnlichkeit. Sie ist unglaublich. Geh und
sieh es dir selbst an. Sie liegt im letzten Bett links.»
    Wie im Traum ging Quin durch das
Krankenzimmer. Frauen saßen aufrecht in den Betten, manche unterhielten sich,
andere strickten, aber alle waren guter Dinge und beobachteten ihn, als er an
ihnen vorüberging.
    Dann sah er plötzlich Ruth – so wie
er sie in Erinnerung hatte, warm und weiblich, irgendwie zugleich stolz und
unsicher. Aber er ging nicht gleich zu ihr. Am Fuß ihres Betts stand, wie vor
allen anderen Betten, ein Kinderbettchen. Und darin lag – Konteradmiral Basher
Somerville.
    Das Baby sah tatsächlich aus wie der Basher; der Basher en
miniature, noch ein wenig verschrumpelter, aber sonst genau gleich. Die
Beethoven-Nase, das volle, krebsrote Gesicht, das Doppelkinn, das aufgeworfene
Mündchen.
    Quin konnte nichts sagen, nur
schauen. Sein Sohn bewegte das verrunzelte kleine Köpfchen, öffnete ein Auge –
ein unergründliches, tiefblaues, wimpernloses Auge –, und der Mund zuckte in
der Vorahnung eines Lächelns. Und da war Quin verloren. Mit einem Augenblick
hatte dieses Wesen, von dessen Existenz er noch fünf Minuten zuvor keine Ahnung
gehabt hatte, von ihm Besitz ergriffen. Gleichzeitig wußte er, daß er jetzt
sterben konnte und es nichts machte, weil das Kind da war und lebte.
    Nur zurückhalten darf ich ihn
niemals, dachte er. Er ist er selbst. Ich gelobe, daß ich ihn gehen lassen
werde.
    Dann sah er Ruth an, die ihn
schweigend beobachtete. Aber sie nicht, dachte er glücklich. Sie nicht! Niemals
werde ich sie hergeben. Er trat zum Kopf des Betts und nahm sie in die Arme.
    Die Schwester hatte gesagt: «Eine halbe Stunde, aber nicht
länger, und nur, weil Sie auf Urlaub sind.» Sie hatte die kalten blauen
Vorhänge um das Bett herum zugezogen, doch die wäßrige Dezembersonne setzte
ihnen goldene Lichter auf.
    «Ich kann es nicht glauben», sagte
Quin immer wieder, während er Ruths Gesicht berührte, ihre Augen, ihren Mund,
ihr Haar. «Ich kann nicht glauben, daß du so dumm sein konntest. Ich
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