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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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herausfinden, wer sie eigentlich ist.»
    «So etwas macht jeder einmal durch»,
bemerkte Ziller. «Das ist ganz natürlich.»
    Mrs. Weiss war anderer Meinung. «Und
was hat sie davon, wenn sie weiß, wer sie ist?» fragte sie und spießte mit der
Kuchengabel ein Stück Gugelhupf auf.
    «Sie kommt sicher bald zurück»,
sagte Miss Maud tröstend. «Sie braucht einfach ein bißchen Zeit, um über die
Enttäuschung bei den Prüfungen und den Bruch mit Heini hinwegzukommen.»
    «Sie hat uns nicht einmal eine
Adresse angegeben», sagte Leonie unglücklich. «Und den Stempel kann ich nicht
lesen. Aber auf der Post können sie es mir bestimmt sagen. Wir müssen sie
finden, Kurt.»
    Kurt Berger legte den Brief aus der
Hand, in dem seine Tochter um Verständnis bat. «Nein», sagte er kurz. «Wir
werden ihre Wünsche respektieren.»
    «Aber ich will ihre Wünsche nicht
respektieren, ich will sie hierhaben!» rief Leonie schluchzend.
    «Jetzt ist genug geredet», sagte
Kurt Berger, und die Erkenntnis, daß er so tief litt wie sie, brachte Leonie
zum Schweigen.
    «Noch nicht heim», bettelte Thisbe, als Ruth den Sportwagen den
von tiefen Wagenspuren durchzogenen Weg hinunterschob.
    «Wir müssen aber nach Hause, Thisbe.
Es gibt gleich Abendbrot.»
    Das kleine Mädchen verzog das
Gesicht, als wollte es weinen. Ruth beugte sich zu ihr hinunter. Der Wind hatte
aufgefrischt, die Berggipfel waren in Nebel gehüllt. So gern sie und die
dreijährige Thisbe im Freien waren, es gab Grenzen. Der Lake District im
Spätherbst war wunderschön, aber abends wurde es empfindlich kühl.
    Ruth wohnte jetzt seit zwei Monaten
bei der Weberin, deren Kinder sie schon in Hampstead Heath versorgt hatte.
Penelope Hartley war auf eine etwas vage Art und Weise durchaus eine nette
Person, und daß sie Ruth als Gegenleistung für ihre Dienste als Kindermädchen
Kost und Logis bot, war unter den Umständen sehr großzügig. Als sich zeigte,
daß es zum Krieg kommen würde, war sie mit ihren Kindern und ihrem
Webstuhl nach Cumberland umgezogen, und Ruth war mitgekommen. Penelope mochte
eine gute Weberin sein, eine gute Hausfrau war sie nicht, und seit Mr. Hartley
sich vor einigen Jahren von ihr getrennt hatte, hatte Penelope alles ein
bißchen herunterkommen lassen.
    Als Ruth jetzt mit dem kleinen
Mädchen in das Häuschen trat, stieg ihr sogleich der Geruch der Gemüsesuppe,
die auf dem Herd stand, in die Nase.
    «Keine Suppe!» schrie Thisbe sofort
und warf sich zu Boden. «Nein, nein, ich mach dir ein Butterbrot», tröstete
Ruth.
    Hier auf dem Land gab es noch
Lebensmittel in Hülle und Fülle, oder es hätte sie zumindest gegeben, wenn
genug Geld dagewesen wäre, um sie zu bezahlen, und nicht die meisten
Dorfbewohner Ruth die kalte Schulter gezeigt hätten.
    Als jetzt die beiden Jungen aus der
Schule nach Hause kamen, Peter und Tristram, rümpften auch sie sofort die
Nasen. «Schon wieder Mamas Spülwasser», sagte Tristram. «Ich eß das nicht, das
braucht sie sich gar nicht einzubilden.»
    Ruth beruhigte ihn, indem sie
Erdnußbutter und Äpfel aus der Speisekammer holte. Wenn es nur nicht schon so
früh dunkel geworden wäre. Vor ein paar Wochen hatte sie nach dem Abendessen
noch mit den Jungen hinausgehen und Ball spielen können; jetzt aber mußten sie
sehen, wie sie sich die endlosen Abende im Qualm der Öllampen vertrieben.
Meistens spielten sie Domino oder ein Brettspiel – wenn nicht gerade wieder
irgendwelche Steine fehlten. Ruth war nicht mehr so beweglich wie früher, und
es machte ihr ziemliche Mühe, auf dem Boden herumzukriechen und nach verlorenen
Spielsachen zu suchen, wenn die Kinder im Bett waren.
    Obwohl vereinbart worden war, daß
sie nur bis sieben Uhr abends arbeiten sollte, hatte es sich eingebürgert, daß
sie Thisbe zu Bett brachte und dann bei ihr blieb, bis sie eingeschlafen war.
Erst danach, wenn sie in ihr Mansardenzimmer hinaufstieg, das wenigstens ihr
allein gehörte, war sie für sich. Oft stellte sie sich dann ans Fenster und sah
in die Dunkelheit hinaus und sehnte sich nach ihrer Mutter und der Geborgenheit
ihrer eigenen Kindheit und nach der bemalten Wiege, die jetzt in Stücke
geschlagen war und in der eigentlich ihr Kind hätte liegen sollen.
    Aber sie würde nicht nachgeben. Es
war ja jetzt nicht mehr lang–nicht einmal mehr zwei Monate. Sie würde es allein
durchstehen. «Nicht wessen ich bin, sondern wer ich bin, davon handelt meine
Suche ...» Immer wieder ging ihr diese Zeile aus einem vergessenen
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