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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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greifen.
    Die Bergers wohnten in der
Innenstadt, in der Beletage eines großen Mietshauses mit einem Hof, in dessen
Mitte eine Kastanie stand. Die betagte Mutter des Professors lebte für sich in
zwei der zwölf Zimmer; seine unverheiratete Schwester Hilda, eine Anthropologin,
deren Spezialgebiet die Verwandtschaftssysteme der Mi-Mi in Betschuanaland
waren, hatte ebenfalls ihre eigenen Räume. Leonies Onkel Mishak, ein kleiner
Mann mit schütterem Haar und einer romantischen Vergangenheit, wohnte im
Mezzanin. Aber sie wären natürlich keine echten Wiener gewesen, wären sie nicht
am letzten Tag des Universitätssemesters in die Berge gereist. Die Kronländer
des alten Habsburgerreichs hatte man den Österreichern ja gelassen: Tirol,
Kärnten, die Steiermark – und das regenreiche Salzkammergut, wo die Bergers an
einem tiefen grünen See, dem Grundlsee, ein Holzhaus besaßen.
    Die Vorbereitungen für das «einfache
Leben», das man dort führte, kosteten Leonie wochenlange Planung. Schließkörbe
wurden aus dem Keller heraufgeschleppt und mit Steingut und Porzellan, mit
Federbetten und Wäsche gefüllt. Stadtkleidung wurde eingemottet; Dirndlkleider
wurden gewaschen, Lodenmäntel und Tirolerhüte herausgeholt und die
Dienstmädchen mit der Eisenbahn vorausgeschickt.
    Dort, auf der Veranda am Wasser,
schrieb der Professor an seinem Buch Die Evolution des fossilen Gehirns, Hilda
verfaßte ihre Aufsätze für die Anthropologische Gesellschaft, und Onkel Mishak angelte. An den Nachmittagen
jedoch kam das Vergnügen zu seinem Recht. Von Freunden, Verwandten und
Studenten begleitet, die zu Besuch kamen, unternahm man in Ruderbooten Ausflüge
zu unwirtlichen Inseln oder wanderte unter ekstatischen Ausrufen wie «Oh!
Alpenrosen!» und «Ah! Enzian!» über blumenbunte Wiesen. Da am See auch jede
Menge Ärzte, Juristen, Theologen und Streichquartette ihre Häuser hatten,
ergaben sich von Blumengruppe zu Blumengruppe häufig hochgeistige Gespräche.
Man wurde von Mücken gestochen, zog sich an den Badehütten Splitter in die
bloßen Füße, bläute sich mit Heidelbeeren die Zähne, und jeden Abend
versammelte man sich, um voller Wonne zuzusehen, wie die Sonne hinter den
schneebedeckten Gipfeln versank.
    Am letzten Augusttag wurden dann die
Dirndlkleider weggehängt, die Deckelkörbe wurden wieder gepackt – und man
kehrte pünktlich zur neuen Spielzeit des Burgtheaters und der Oper und zum
Beginn des Wintersemesters nach Wien zurück.
    In diese vom Glück gesegnete Familie wurde – als der
Professor bereits auf die Vierzig zuging und seine Frau alle Hoffnung auf ein
Kind aufgegeben hatte – eine Tochter geboren, die man Ruth taufte.
    Das Kind, das von Wiens
renommiertestem Geburtshelfer ans Licht der Welt geholt wurde, zog Scharen von
Doktoren, Professoren, Universitätshonoratioren und Laureaten an, die ihm ihre
Aufwartung machten, mit Gelehrtenfingern sein Köpfchen streichelten und recht
häufig Goethe deklamierten.
    Ungeachtet dieses Aufmarschs an
Intelligenz holte Leonie aus Vorarlberg ihre alte Kinderfrau, die mit der
hölzernen Wiege eintraf, die schon seit Generationen in der Familie war. Der
Säugling lag nun im Hof unter dem Kastanienbaum, eingelullt vom Klang der süßen
und törichten Liedchen von Rosen und Nelken und Schäfern, die die Kinder vom
Land mit der Muttermilch einsaugen. Und anfangs schien es, als wollte sich Ruth
zu genau so einer kleinen Gänseliesel entwickeln. Ihr Haar, als es endlich zu
wachsen begann, hatte die Farbe des Sonnenlichts; ihre Stupsnase lockte
Sommersprossen an; sie besaß ein strahlend süßes Lächeln. Aber keine Gänsemagd
umklammerte je die Seiten ihres Bettchens mit solch energischer
Entschlossenheit; keine Gänseliesel hatte so wißbegierige, lebenshungrige
dunkelbraune Augen.
    «Eine Bauerndirn mit den Augen
Nofretetes», sagte ein angesehener Ägyptologe, der zum Abendessen kam.
    Sie unterhielt sich für ihr Leben
gern, sie mußte alles wissen; sie war ein kleiner Tausendsassa und überzeugt,
sie könnte die ganze Welt in Ordnung bringen.
    «Solche Wörter sollte sie aber noch
nicht kennen!» sagten Leonies Freundinnen schockiert.
    Doch die Wörter hatten es Ruth
angetan. Und das Wissen.
    Der Professor, ein großer,
patriarchalisch wirkender Mann mit grauem Bart, an die Bewunderung seiner
Studenten gewöhnt, führte sie selbst durch das Naturhistorische Museum, in dem
er seine eigenen Räume hatte. Mit sechs war sie mit den Mühen und
Komplikationen, die mit der Paarung
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