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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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Stiefschwester,
hatte einen ungarischen Journalisten namens Radek geheiratet, und Heini wohnte
an einem Ort, der Rosenhügel hieß, hoch über der Donau in einer gelben, von
Apfelbäumen beschatteten Villa. Etwas weiter hangabwärts stand das Grabmal
eines türkischen Paschas; vom Balkon der Radeks konnte man den mächtigen Fluß
sehen, der den ungarischen Ebenen entgegenströmte, die anmutigen Brücken, die
ihn überspannten, die Türmchen und Giebel des Parlaments, einem Traumschloß
ähnlich. In Budapest nämlich fließt die Donau anders als in Wien mitten durch
das Herz der Stadt.
    Aber das war nicht alles. Im Alter
von drei Jahren kletterte Heini eines Tages auf den Klavierhocker seines
Vaters.
    «Es war wie eine Heimkehr», sollte
er später den Journalisten erzählen. Mit sechs Jahren gab er in dem Saal, in
dem Franz Liszt gespielt hatte, sein erstes Konzert. Zwei Jahre später durfte
er Béla Bartok vorspielen, und der große Mann nickte beifällig.
    Aber im Märchen gibt es immer auch
traurige Ereignisse. Als Heini elf war, starb seine Mutter,
und das goldene Wunderkind wurde beinahe zur Waise, da sein Vater, Herausgeber
einer deutschsprachigen Zeitung, Tag und Nacht arbeitete. Deshalb beschloß
dieser, Heini sein Studium in Wien fortsetzen und sich dort auf den Eintritt in
das Konservatorium vorbereiten zu lassen. Der Junge sollte bei seinem Lehrer
wohnen, einem hochangesehenen Klavierpädagogen, doch seine Freizeit sollte er
bei den Bergers verbringen.
    Niemals würde Ruth die erste
Begegnung mit ihm vergessen. Sie war gerade von der Schule nach Hause gekommen
und hängte ihren Ranzen auf, als sie die Musik hörte. Ein langsames Stück, und
traurig, aber in aller Traurigkeit so richtig, so – getröstet.
    Ihr Vater und ihre Tante waren noch
in der Universität; ihre Mutter war in der Küche und konferierte mit der
Köchin. Von der Musik angezogen, eilte Ruth durch die Flucht von Räumen – das
Speisezimmer, den Salon, die Bibliothek – und öffnete die Tür des Musikzimmers.
    Zuerst sah sie nur den riesigen
Deckel des Bechsteinflügels, der wie ein schwarzes Segel ins Zimmer ragte. Dann
lugte sie um ihn herum und erblickte den Jungen.
    Er hatte ein schmales Gesicht,
schwarze Locken, die ihm wirr in die Stirn fielen, bis hinunter zu den großen
grauen Augen. Als er sie bemerkte, lächelte er, ohne die Hände von den Tasten
zu nehmen, und sagte: «Guten Tag.»
    Sie lächelte ebenfalls, gebannt von
dem Entzücken, das ihr diese Musik bereitete, überwältigt von der Autorität,
die er ausstrahlte, so jung er war.
    «Das ist Mozart, nicht wahr?» sagte
sie und seufzte, denn sie wußte schon, daß in Mozart alles war; wenn man sich
an ihn hielt, konnte man nicht fehlgehen. Zwei Jahre zuvor hatte sie begonnen,
sich in ihren Tagträumen seiner anzunehmen, und hatte ihn mit ihren Kochkünsten
und ihrer Fürsorge weit über sein sechsunddreißigstes Jahr hinaus am Leben
erhalten.
    «Ja. Das Adagio in b-Moll.»
    Er hörte zu spielen auf und sah sie
an, und sie gefiel ihm. Ihr blondes Haar, das zu einem altmodischen dicken Zopf
geflochten war, gefiel ihm, ihre Stupsnase gefiel ihm, die frische weiße Bluse
und der Faltenrock gefielen ihm. Vor allem aber gefiel ihm die Bewunderung in
ihren Augen.
    «Ich sollte dich nicht stören»,
sagte sie.
    Er schüttelte den Kopf. «Es stört
mich nicht, wenn du bleibst, solange du leise bist», sagte er.
    Und dann erzählte er ihr von Mozarts
Star.
    «Mozart hatte einen Star», sagte
Heini. «Er hat ihn in einem Käfig in dem Zimmer gehalten, in dem er arbeitete,
und es störte ihn nie, wenn der Vogel sang. Im Gegenteil, er hatte es gern,
wenn der Star da war, und hat seinen Gesang im Finale des Klavierkonzerts in
G-Dur verwendet. Hast du das gewußt?»
    «Nein.»
    Ihr dicker Zopf flog, als sie den
Kopf schüttelte.
    «Du kannst mein Star sein», sagte
Heini.
    Sie nickte. Es war eine Ehre und ein
Geschenk, das begriff sie sofort.
    «Gern», sagte Ruth.
    Und von da an setzte sie sich, wann
immer es ging, in das Zimmer, in dem er übte, manchmal mit ihren Hausaufgaben
oder einem Buch, meist nur, um seinem Spiel zuzuhören. Sie blätterte ihm um,
wenn er mit Noten spielte, und ihre kleinen, eckigen Finger berührten die
Seiten so leicht wie Schmetterlingsflügel. Sie wartete nach den Stunden auf
ihn, sie brachte seine zerschlissenen Beethoven-Sonaten zur Buchbinderei, um
sie neu binden zu lassen.
    «Sie macht sich zu seinem Pagen»,
sagte Leonie nicht unbedingt erfreut.
    Aber
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