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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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Ruth vernachlässigte weder ihre
Schularbeiten noch ihre Freundinnen, irgendwie fand sie Zeit für alles.
    «Ich möchte so leben, wie Musik
klingt», sagte sie einmal, als sie aus einem Konzert im Musikverein kam.
    Indem sie Heini diente und ihn
liebte, kam sie dieser Vorstellung näher.
    Heini blieb also in Wien und
verbrachte den Sommer zusammen mit einem gemieteten Klavier bei den Bergers am
Grundlsee.
    In diesem Sommer, dem Sommer des
Jahres 1930, kam auch ein junger Engländer namens Quinton Somerville nach Wien,
um bei Professor Berger zu arbeiten.
    Quin war gerade 23 Jahre alt, aber
er hatte bereits anderthalb Jahre in Tübingen unter dem berühmten Paläontologen
von Huene gearbeitet und brachte, als er in Wien eintraf, nicht nur ausgezeichnete
Deutschkenntnisse mit, sondern auch einen für einen so jungen Wissenschaftler
beeindruckenden Ruf. Noch während seines Studiums in Cambridge war es ihm
gelungen, sich einer Expedition nach Tanganjika zu den Lagerstätten der
Riesenechsen von Tendaguru anzuschließen. Im folgenden Jahr reiste er zum Kap,
wo man in einem Kalkbruch den Schädel des Australopithecus africanus gefunden
hatte, was eine hitzige Kontroverse über die Herkunft des Menschen ausgelöst
hatte. Es war schwierig, in all den Auseinandersetzungen unter Wissenschaftlern
wilde Spekulationen und Effekthascherei zu vermeiden, doch Quins Dissertation
über die Funde von Säugetiergebeinen in der Olduvai-Schlucht war sowohl
wissenschaftlich fundiert als auch nüchtern.
    Kurt Berger lernte ihn auf einer
Konferenz kennen und lud ihn als Gastredner zur Jahresversammlung der
Paläontologischen Gesellschaft nach Wien ein. Vielleicht, meinte er, könnte er
einige Wochen bleiben und ihm bei der Bearbeitung einer neuen Sammlung von
Aufsätzen zur Wirbeltierkunde helfen.
    Quin kam. Sein Vortrag wurde ein
Erfolg. Er war eben aus Kenia zurückgekehrt und sprach voller Begeisterung über
die aufregenden Ausgrabungsarbeiten und die Schönheit des Landes. Er hatte
eigentlich vorgehabt, sich in einem Hotel einzumieten, aber davon wollte Kurt
Berger nichts wissen.
    «Sie werden selbstverständlich bei
uns wohnen», sagte er und nahm ihn mit in die Rauhensteingasse, wo seine
Familie sich höchst verwundert zeigte. Denn es war bekannt, daß Engländer,
besonders solche, die auf Forschungsreisen gingen und tollkühne Kletterpartien
unternahmen, stets groß und blond waren, stechende blaue Augen, ein wieherndes
Organ und einen arroganten Ton hatten, mit dem sie über Eingeborene und
Untergebene verfügten. Bestenfalls sahen sie, wenn sie aus sehr guter Familie
kamen, ausgebleicht und wie gemeißelt aus, Kreuzrittern auf Grabmälern ähnlich,
mit langen, aristokratischen Nasen und sehnigen Händen, die über ihren
Schwertern gefaltet waren.
    In all diesen Punkten war Quin eine
Enttäuschung. Er hatte ein Gesicht, das aussah, als müßte es gebügelt werden;
die hohe Stirn konnte sich von einem Moment auf den anderen in beunruhigend
tiefe Falten legen; seine Nase wirkte irgendwie deformiert, wie gebrochen, und
die häufig amüsiert, immer forschend blickenden Augen waren von einem tiefen,
beinahe südländischen Braun. Nur die wohlgeformten Hände, mit denen er eine
alte Pfeife zu stopfen und zu klopfen pflegte (aber nur selten anzündete),
hätten auf einem Grabmal bestehen können.
    «Aber seine Schuhe sind handgenäht»,
behauptete Miss Kenmore, Ruths schottische Gouvernante. «Er ist eindeutig upper
dass.»
    Leonie war geneigt, dies aufgrund
der Fiaker zu glauben, die etwa nach dem Theater oder der Oper auch mitten auf
der Ringstraße augenblicklich wendeten, wenn Quin nur mit den Fingern
schnippte.
    «Sonst könnte er wohl kaum so gut
schießen», sagte Ruth. Der Engländer hatte im Prater an der Schießbude eine
Kristallschale, einen Goldfisch und ein riesiges himmelblaues Kaninchen gewonnen
und war daraufhin von dem erbosten Schießbudenbesitzer aufgefordert worden,
anderswo die Regale abzuräumen. Was konnte dies anderes bedeuten als Jahre
fröhlichen Halalis auf windigen Hochmooren, wo man Fasanen, Rebhühnern und Moorhühnern
den Garaus machte?
    Die Realität sah anders aus. Quins Mutter war bei seiner
Geburt gestorben; sein Vater, der zum Stab der britischen Botschaft in der
Schweiz gehörte, meldete sich 1916 freiwillig an die Front und fiel an der
Somme. Quin wurde heimgeschickt auf den Stammsitz der Familie und fand sich in
einem Haus mit lauter alten Leuten. Ein cholerischer, herrschsüchtiger
Großvater –
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