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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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einhergehen, bereits bestens vertraut.
    «Ein bißchen traurig ist das schon,
nicht?» sagte sie, während sie an der Hand ihres Vaters die eingeglasten
Spinnen betrachtete, die ihren Männchen die Köpfe abbissen, um die Befruchtung
zu beschleunigen.
    Von der weltfremden Tante Hilda, die
es fertigbrachte, morgens ihren Rock verkehrt herum anzuziehen und so in die
Universität zu gehen, lernte Ruth den Wert der Toleranz.
    «Man darf fremde Kulturen nicht an
den Maßstäben der eigenen Kultur messen», sagte Tante Hilda, die an einer
Monographie über ihre geliebten Mi-Mi schrieb – und Ruth akzeptierte schnell,
daß es bei gewissen Stämmen eben zum Ritual gehörte, die Großmutter zu
verspeisen.
    Die Forschungsassistenten und
Hilfskräfte der Universität kannten sie so gut wie die Präparatoren im Museum.
Mit acht durfte sie ihrem Vater beim Sortieren der Zähne der fossilen
Höhlenbären helfen, die er in der Drachenhöhle gefunden hatte, und es war klar,
daß sie später seine Assistentin werden, seine Bücher tippen und ihn auf seinen
wissenschaftlichen Exkursionen begleiten würde.
    Ihr kleiner kahlköpfiger Onkel
Mishak, der noch immer um seine verstorbene Frau trauerte, führte
sie in eine ganz andere Welt ein. Mishak hatte zwanzig Jahre lang pflichtbewußt
in der Personalabteilung des Warenhauses seines Bruders gearbeitet, aber im
Grunde seines Herzens war er ein Landkind geblieben und pflegte durch die Stadt
zu streifen, wie er früher durch die böhmischen Wälder gestreift war. Wenn Ruth
mit Mishak zusammen war, gab es immer irgendein Tier zu füttern – eine Ente im
Stadtpark, ein Eichhörnchen – oder etwas zu streicheln – einen müden Fiakergaul
an den Toren zum Prater, die steinernen Zehen des Neptun auf dem Springbrunnen
in Schönbrunn.
    Und natürlich war da ihre Mutter,
Leonie, die sie herzte und küßte, die sie tadelte und schalt; die zutiefst
verletzt sein konnte von der bissigen Bemerkung einer Großtante und nichts mehr
von dieser Tante wissen wollte, nur um sich bei nächster Gelegenheit mit einem
riesigen Blumenstrauß unter Tränen mit ihr zu versöhnen; die Ruth in das
Warenhaus ihres Großvaters schleppte, um sie mit Matrosenkleidern und
Lackschuhen und seidenen Faltenröckchen auszustaffieren, und die sie anschrie,
wenn sie von der Schule nach Hause kam.
    «Wieso bist du in Englisch nicht die
Beste? Du hast dich von dieser dummen Inge überflügeln lassen», rief sie dann
wohl – und lud Ruth gleich darauf zum Trost zu Schokoladeneclairs bei Demel
ein. «Na ja, sie hat ja auch eine Nase wie ein Ameisenbär, die Arme, da kann
man es ihr gönnen, daß sie wenigstens in Englisch die Beste ist», sagte sie
abschließend; aber im folgenden Jahr importierte sie eine schottische
Gouvernante, um dafür zu sorgen, daß ihre Ruth in Englisch alle übertrumpfte.
    Das Kind wuchs heran; kapriziös,
leidenschaftlich, klug; empfahl Geburtenkontrolle für die Katze seiner
Großmutter und weinte herzzerreißend, als es bei der Schulaufführung zu Weihnachten
nicht die Schneekönigin spielen durfte, sondern nur einen Eiszapfen.
    «Hört sie eigentlich nie zu reden
auf?» pflegten Leonies Freundinnen zu fragen – dabei war sie ganz leicht zum
Schweigen zu bringen. Eine Zurechtweisung, ein unfreundliches Wort ließen sie augenblicklich
verstummen.
    Und noch etwas: Musik.
    Ruths Liebe zur Musik war so sehr
Teil ihres Wiener Erbes, daß zunächst keinem auffiel, wie ausgeprägt sie war.
Von frühester Kindheit an war sie wie gebannt und durch nichts abzulenken, wenn
irgendwo Musik gemacht wurde, und es gab bestimmte Orte, Musikplätze nannte sie
sie, zu denen es sie hinzog wie einen durstigen Büffel zum Wasserloch.
    Da war einmal das Erdgeschoßfenster
der schäbigen alten Hochschule für Musik, in der das Ziller-Quartett zu proben
pflegte; dann der Konzertsaal – der Musikverein –, wo man die Philharmoniker
spielen hören konnte, wenn der Hausmeister so nett gewesen war, die Tür
offenzulassen. Ein blinder Geiger unter all den Straßenmusikanten fesselte sie
so sehr, daß sie vor lauter Konzentration ganz bleich wurde. Ihre Eltern
zeigten Verständnis; sie bekam Klavierstunden, die ihr Freude machten, sie
bestand ihre Prüfungen, aber sie sehnte sich nach einer Brillanz, die ihr
fehlte.
    Kein Wunder, daß sie lange Zeit mit
großen Augen den Geschichten von ihrem Vetter Heini in Budapest zuhörte.
    Heini war knapp ein Jahr älter als
Ruth, ein Märchenkind, wie ihr schien. Seine Mutter, Leonies
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