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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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die Talsohle erreicht hatten.
    «Hier schlagen wir unser Lager auf»,
sagte Quin und wies auf einen Platz, wo der ruhige Fluß, der gemächlich
vorüberströmte, an überhängenden Weiden zerrte, und Orchideen und Lilien das
Grasland sprenkelten.
    Später, als die Maultiere weideten
und der Rauch des Feuers in die stille Luft aufstieg, setzte er sich an einen
Baumstamm und nahm seine alte Pfeife heraus. Er war dreißig Jahre alt. Furchen
krausten seine Stirn und zogen sich von den Winkeln seines Mundes abwärts, die
dunklen Augen konnten hart blicken, aber in diesem Moment war er glücklich. Den
düsteren Prognosen des Belgiers zum Trotz, dessen Brille von einem Yak
zertreten worden war; den Beteuerungen der Träger zum Trotz, daß es im Frühjahr
unmöglich sei, die ferneren Täler des Siwalik-Gebirges zu erreichen, hatte er
einen so reichen Fund an Miozän-Fossilien gemacht, wie man ihn sich nur
wünschen konnte. In Holzwolle und Leinwand eingebettet, kostbarer als jeder
Goldschatz aus fürstlichen Grabkammern, befanden sich in ihrem Gepäck die
unverwechselbaren Überreste des Ramapithecus, eines der frühesten
Vorfahren des Menschen.
    Drei Wochen Marsch am Fluß entlang
lagen noch vor ihnen, ehe sie ihre Funde auf Lastwagen laden und nach Simla
hinunterbefördern konnten, aber die Probleme, die sie jetzt erwarteten, würden
mehr sozialer Natur sein: Teezeremonien mit den Dorfbewohnern, Wanzen,
Gastgeschenke ...
    Ein Lämmergeier hing reglos am
Himmel. Das Glockengeläut des weidenden Viehs schallte von einer fernen Wiese
herüber und die klagenden Töne einer Flöte.
    Quin schloß die Augen.
    Nachricht von der Außenwelt wurde
ihnen erst von einem Offizier der indischen Armee in dem Rasthaus oberhalb von
Simla überbracht, die Meldungen nach ihrer Wichtigkeit geordnet: Oxford hatte
die jährliche Ruderregatta gewonnen; ein Außenseiter namens Battleship hatte
beim Derby in Aintree das gesamte Feld geschlagen.
    «Ach, und Hitler hat Österreich
annektiert. Er ist in Wien einmarschiert, und es wurde nicht ein einziger Schuß
abgegeben.»
    «Wollen Sie trotzdem noch hin?»
fragte Milner, sein Forschungsassistent und vertrauter Freund.
    «Ich weiß nicht.»
    «Es ist ja doch eine große Ehre,
denke ich. Umsonst bekommt man die Ehrendoktorwürde an so einer Universität
sicher nicht.»
    Quin zuckte die Achseln. Ihm war
schon eine Reihe ähnlicher Auszeichnungen verliehen worden. Obwohl er sich drei
Jahre zuvor hatte überreden lassen, einen Lehrstuhl in London zu übernehmen,
war es ihm bisher gelungen, weiterhin seiner Forschungsarbeit in entlegenen
Winkeln der Erde nachzugehen, und er hatte mit seinen Funden Glück gehabt.
    «Berger hat es arrangiert. Er ist
jetzt Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät. Wenn ich fahre, dann nur
seinetwegen; mit den Nazis möchte ich nichts zu tun haben. Aber ich verdanke
    Berger eine Menge, und seine Familie
hat mich vor einigen Jahren sehr gastfreundlich aufgenommen. Ich habe einen
Sommer bei ihnen verbracht.»
    Er lächelte bei der Erinnerung an
die lebhafte, liebenswürdige Familie Berger, an die opulenten Mahlzeiten in der
Wiener Wohnung, das hübsche Holzhaus am Grundlsee. Er erinnerte sich einer zu
Mißgeschicken neigenden Anthropologin, deren Monographie über die Mi-Mi aus dem
Ruderboot in den See gefallen war, und eines kleinen Mädchens mit Zöpfen und
einem biblischen Namen, den er nicht mehr wußte. Rahel? Hanna?
    «Ich fahre», entschied er. «Wenn ich
in Izmir von Bord gehe, habe ich Anschluß an den Orient-Expreß. Der Umweg wird
mich höchstens zwei Tage kosten. Ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, daß
Sie beim Zoll alles gut erledigen werden. Sollte es doch Schwierigkeiten geben,
so kläre ich sie, wenn ich komme.»
    Die Tauben gab es noch, die wie von Musik getragen in den
Lüften dieser musikbegeisterten Stadt kreisten; es gab noch das alte Kopfsteinpflaster,
die engen Straßen, an deren Ende man immer die Türme des Stephansdoms sah; und
auch den Geruch nach Vanille, der ihm in die Nase wehte, als er das Fenster des
Taxis öffnete, und den Flieder und den Goldregen im Park.
    Aber vor den Fenstern wehten jetzt
Hakenkreuzfahnen, Erinnerung an den großen Empfang, den die Stadt dem Führer
bereitet hatte, und an den Straßenecken standen kleine Trupps von SA- und
SS-Männern. Als das Taxi in eine schmale Gasse einbog, sah er die häßlichen
Schmierereien an den Türen jüdischer Geschäfte und die eingeschlagenen Fenster.
    Im Hotel Sacher wartete das
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