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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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Quin auf das Podium
hinauf. Der Rektor hob die Wurst – und schreckte zurück. «Der Mann machte ein
Gesicht, als wollte er mich umbringen», beschwerte er sich hinterher. Quin
beherrschte sich, nahm die Urkunde entgegen, kehrte an seinen Platz zurück.
    Nun war es
endlich vorbei, und er konnte die Frage stellen, die ihn während der ganzen
langweiligen Zeremonie beschäftigt hatte. «Wo ist Professor Berger?»
    Der Prodekan, den er angesprochen
hatte, wich seinem Blick aus. «Professor Berger ist nicht mehr bei uns. Aber
der neue Dekan, Professor Schäfer, wartet schon darauf, Sie zu
begrüßen.»
    «Das ist sehr freundlich von ihm, aber mich interessiert im Augenblick
nur, wo Professor Berger ist. Bitte beantworten Sie meine Frage.»
    Der Mann trat verlegen von einem Fuß
auf den anderen. «Er ist seines Postens enthoben worden.»
    «Warum?»
    «Unmittelbar nach dem Anschluß
wurden auch hier die Nürnberger Gesetze rechtskräftig. Nichtarier sind von
öffentlichen Ämtern ausgeschlossen.» Er trat einen Schritt zurück. «Ich kann
nichts dafür, das ist ...»
    «Wo ist Professor Berger? Ist er
noch in Wien?»
    Der Mann schüttelte den Kopf. «Das
weiß ich nicht. Viele Juden versuchen auszuwandern.»
    «Beschaffen Sie mir seine letzte
Adresse.»
    «Natürlich, Professor Somerville.
Gleich nach dem Empfang.»
    «Nein, nicht nach dem Empfang», entgegnete Quin. «Jetzt!»
    An die Straße erinnerte er sich, an das Haus zunächst
nicht. Dann wiesen ihm zwei ausgesprochen wohlgenährte Karyatiden den Torbogen
zum Hof. Die Hausmeisterin war nicht in ihrer Loge; niemand hielt ihn auf, als
er die breite Marmortreppe in die erste Etage hinaufstieg.
    Das Messingschild mit dem Namen
Berger war noch an der Tür; die Tür selbst war überraschenderweise nur
angelehnt. Er stieß sie auf. Hier war man früher von einem Mädchen im weißen
Schürzchen in Empfang genommen worden, aber jetzt war niemand da. Der
Regenschirm und die Spazierstöcke Kurt Bergers steckten noch in ihrem Ständer,
sein Hut hing am Haken. Quin ging auf dem dicken türkischen Teppich durch den
Flur, klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer und öffnete sie. Wie oft hatte er
hier gesessen und an der Sammlung von
wissenschaftlichen Aufsätzen gearbeitet, voll Hochachtung vor Bergers Wissen
und der Großzügigkeit, mit der er seine Ideen teilte! Bergers Bücher standen
unberührt in den Wandregalen, die Remington war unter ihrer schwarzen Haube auf
dem Schreibtisch.
    Doch die Stille hatte etwas
Unheimliches. Er mußte an die Marie Celeste denken, das Schiff, das man
verlassen dahintreibend auf dem Ozean gefunden hatte, die Tassen noch auf dem
Tisch, die Speisen unberührt. Eine Flügeltür führte vom Arbeitszimmer ins
Eßzimmer mit dem großen schweren Tisch und den hochlehnigen, mit Leder
bezogenen Stühlen. Das Meißner Porzellan leuchtete noch in der Glasvitrine; ein
Pokal, den Kurt Berger in einem Fechtturnier gewonnen hatte, stand auf der
Kredenz. Mit wachsender Verwunderung ging Quin weiter in den Salon. Die
Gemälde, die vornehmlich Berglandschaften zeigten, hingen unversehrt an den
Wänden; die Kriegsorden Kurt Bergers lagen in ihre Kästchen gebettet unter
Glas. Ein Palme in einem Messingtopf war offensichtlich frisch gegossen –
dennoch hatte er kaum je solche Leere, solche Trostlosigkeit gespürt.
    Nein, doch keine Leere. In einem
fernen Raum spielte jemand Klavier. Aber Spiel konnte man das kaum nennen, es
war die unablässige Wiederholung derselben Phrase, einer gänzlich unpassenden
trällernden Figur, die wie das Zwitschern eines Vogels klang.
    Er befand sich jetzt in den Räumen
mit Blick zum Hof, ging weiter von Tür zu Tür. Und nun endlich eine letzte Tür,
dahinter die Quelle der Musik: ein junges Mädchen, das den Kopf in die
Ellenbogenbeuge des auf dem Klavier ruhenden Arms geschmiegt hielt, während die
Finger ihrer freien Hand über die Tasten glitten. In dem Moment, ehe sie auf
ihn aufmerksam wurde, sah er, wie müde sie war, und wie hoffnungslos. Dann hob
sie den Kopf, und als sie ihn anblickte, fiel ihm plötzlich ihr Name wieder
ein.
    «Sie sind sicher Professor Bergers
Tochter Ruth.»
    Es war ein gewisser Triumph für ihn, dieses Wiedererkennen,
denn das niedliche kleine Plappermaul mit den blonden Zöpfen hatte sich sehr verändert. Jetzt fiel ihr das
schöne lange Haar offen bis zur Mitte des Rückens herab und war von Farben
durchschossen, die schwer zu bestimmen waren – eine Art grünschimmerndes Gold,
das beinahe khakifarben
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