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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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wissen es nicht genau. Sie
hatte eine sehr arische Mutter – so eine Art Ziegenhirtin.»
    «Dann sind Sie also – was? Drei
Viertel? Fünf Achtel? Es ist schwer zu glauben.»
    Sie lächelte. «Meine Stupsnase,
meinen Sie – und mein helles Haar. Meine Großmutter kam vom Land – die Ziegenhirtin,
meine ich. Mein Großvater entdeckte sie wirklich beim Ziegenhüten – oder
jedenfalls beinahe. Sie stammte von einem Bauernhof. Wir haben sie manchmal
ausgelacht und sie Heidi genannt; sie hat in ihrem ganzen Leben kein Buch
gelesen, aber heute bin ich ihr dankbar, weil ich ihr ähnlich sehe und mich nie
jemand belästigt.»
    Sie hatten die Glasveranda mit Blick
in den Hof erreicht. In der Ecke neben einem Oleander stand eine mit Rosen und
Lilien bemalte Wiege. Auf dem Kopfbrett stand in verschnörkelter Schrift
«Ruthchens Wiege».
    Quirl stieß sie mit der Fußspitze
an. Ruth schwieg. Unten im Hof breitete die blühende Kastanie ihre ausladenden
Äste aus. An einem von ihnen hing eine Schaukel; an einer Wäscheleine, die
zwischen zwei Pfosten gespannt war, flatterten eine Reihe rotweiß karierter Geschirrtücher und ein Babyhemdchen,
das nicht größer war als ein Taschentuch.
    «Da unten habe ich immer gespielt»,
sagte sie. «Als ich noch klein war. Ich fühlte mich dort so geborgen. Der Hof
war für mich der sicherste Platz der Welt.»
    Er hatte nichts gesagt, sich nicht
gerührt, dennoch veranlaßte irgend etwas sie, sich umzudrehen. Sie hatte von
ihm das Bild eines gütigen, kultivierten Menschen; aber jetzt wirkte das
zerfurchte Gesicht wie eine Teufelsmaske: der Mund verzerrt, die Haut über den
Knochen straff gespannt. Die Verwandlung hielt nur einen Moment an. Dann legte
er leicht die Hand auf ihren Arm.
    «Wir können bestimmt etwas tun.
Warten Sie nur.»
    Ruth hatte nicht übertrieben. Das Chaos und
die Verzweiflung, die der Anschluß hervorgerufen hatte, waren unbeschreiblich.
Er war früh ins britische Konsulat gekommen, aber in den Gängen hatten sich
bereits Warteschlangen gebildet. Die Menschen bettelten um Papiere – Visa, Pässe,
Genehmigungen – wie Verhungernde um Brot.
    «Tut mir wirklich leid, Sir, aber da
kann ich Ihnen nicht weiterhelfen», sagte der Beamte, nachdem er sich Ruths
Unterlagen angesehen hatte. «Wir würden die Dame ja ins Land lassen, aber die
Österreicher lassen sie hier nicht heraus. Sie müßte einen neuen
Auswanderungsantrag stellen, und die Bearbeitung kann Monate oder Jahre dauern.
Die Quote ist voll, wissen Sie.»
    «Und wenn ich für sie bürgen würde –
garantieren, daß sie dem Staat nicht zur Last fallen wird? Oder wenn ich ihr
eine Arbeitsgenehmigung als Haushaltshilfe besorgen würde? Meine Familie
könnte ihr eine Anstellung geben.»
    «Das müßten Sie von England aus
arrangieren, Sir. Hier geht alles drunter und drüber, seit Österreich kein
unabhängiger Staat mehr ist. Die Botschaft soll geschlossen werden, und unser
Personal wird schon laufend heimgeschickt.»
    «Lieber Gott, das Mädchen ist
zwanzig Jahre alt. Ihre ganze Familie ist in England – sie steht völlig allein
da.»
    «Es tut mir leid, Sir», wiederholte
der junge Mann müde. «Glauben Sie mir, was ich hier in den letzten Wochen
erlebt habe ... aber von hier aus läßt sich nichts tun. Jedenfalls nichts, was
für Sie in Frage käme.»
    «Und was
ist das, was für mich nicht in Frage käme?»
    Der junge
Mann sagte es ihm.
    Ach, zum Teufel mit dem Mädchen,
dachte Quin. Er hatte im Nachtzug ein Schlafwagenabteil reserviert; die Examen
begannen in weniger als einer Woche. Bei Antritt seines Forschungsurlaubs hatte
er versprochen, zum Ende des Semesters zurückzusein. Er hatte nicht vor, die
Benotung der Arbeiten seinem Stellvertreter zu überlassen.
    Er trat in das Haus in der
Rauhensteingasse und ging in den ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür stand
weit offen. Im Flur war der Spiegel zerschlagen, der Schirmständer war
umgekippt. Das Wort «Jude» war mit gelber Farbe quer über die Fotografie
geschmiert, die Kurt Berger mit dem Kaiser zeigte. Im Salon hatte man die
Bilder von den Wänden gerissen; die Palme lag entwurzelt auf dem Teppich. Im
Eßzimmer waren die Türen der Vitrine gesprengt, das Meißner Porzellan war
verschwunden.
    Ruths Wiege auf der Veranda war in
Stücke geschlagen.
    Er hatte vergessen, was für eine
heftige körperliche Wirkung der Zorn hatte. Er mußte mehrmals tief Atem holen,
ehe das Schwindelgefühl sich legte und er die Treppe hinuntersteigen konnte.
    Diesmal war
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