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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe
Autoren: Eva Ibbotson
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war. Eingerahmt von dieser Fülle war ein blasses, dreieckiges
Gesicht mit dunkel umschatteten Augen. Sie glich der gefangenen Rapunzel, die
auf den Prinzen wartete, der sie aus dem Turm befreien würde.
    «Was haben Sie da gerade gespielt?»
fragte er.
    Sie sah zu den Tasten hinunter. «Das
ist das Rondo aus dem letzten Satz des Klavierkonzerts in G-Dur von Mozart. Es
wurde angeblich vom Gezwitscher eines Stars inspiriert, der ...» Ihre Stimme
brach, und sie senkte den Kopf. Aber nun erinnerte auch sie sich. «Natürlich!
Sie sind Professor Somerville! Ich weiß noch, als Sie damals zu uns kamen und
wir so enttäuscht waren. Wir dachten, Sie hätten sonnenverbrannte Knie und eine
Stimme wie Richard Löwenherz.»
    «Was für eine Stimme hatte der
denn?»
    «Oh, laut vor allem. Bei seinem Ruf
sind die Pferde in die Knie gegangen, wußten Sie das nicht?»
    Quin schüttelte den Kopf. Er war
verblüfft. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen und lächelte ihn
an – und im Nu war die Gefangene im Turm verschwunden, und es war Sommer in den
Bergen, auf sonnenbeschienener Alm. Jetzt waren es nicht die Augen, die einem
auffielen, sondern die Stupsnase, der große Mund, die Sommersprossen.
«Natürlich, heute war ja die Verleihungsfeier, nicht wahr? Mein Vater hat
versucht, Sie zu erreichen, solange er noch telefonieren durfte. Ist alles gutgegangen?»
    Quin zuckte die Achseln. «Wo ist Ihr
Vater?»
    «In England. In London. Meine Mutter
auch, und meine Tante und Onkel Mishak. Sie sind vor einer Woche abgereist.
Und Heini auch – er ist nach Budapest gefahren, um sein Visum abzuholen und
sich von seinem Vater zu verabschieden. Dann geht er auch zu ihnen nach
England.»
    «Und Sie hat man hier
zurückgelassen?»
    Er konnte es nicht glauben. Er
erinnerte sich ihrer als eines eher übermäßig behüteten, verwöhnten Kindes.
    Sie
schüttelte den Kopf. «Mich haben sie vorausgeschickt. Aber es ist alles
schiefgegangen.» Der idyllische Moment auf der sonnenbeschienenen Alm war
jetzt vorbei. Tränen traten ihr in die Augen, und sie ballte die eine Hand zur
Faust und preßte sie an die Wange, als könnte sie so ihren Schmerz
unterdrücken. «Alles ist schiefgegangen», wiederholte sie. «Und jetzt sitze
ich hier in der Falle. Es ist niemand mehr da.»
    «Erzählen
Sie», sagte Quin. «Ich habe viel Zeit. Erzählen Sie mir genau, was passiert
ist. Und kommen Sie vom Klavier weg. Machen wir es uns ein wenig bequem.» Er
hatte begriffen, daß das Klavier für sie die Quelle eines besonderen Schmerzes
war.
    «Nein.» Sie war immer noch die brave
Akademikertochter, die wußte, was sich gehörte. «Jetzt ist doch das
Festbankett. Nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde findet immer ein großes
Essen statt. Da werden Sie bestimmt erwartet.»
    «Sie glauben doch nicht im Ernst,
daß ich mich mit diesen Leuten an einen Tisch setzen würde», entgegnete er
ruhig. «Also, fangen Sie an.»
    Ihr Vater hatte schon vor dem Anschluß versucht, ein Studentenvisum
für sie zu bekommen.
    «Da hofften wir noch, die
Österreicher würden sich Hitler entgegenstellen, aber er hatte mich immer schon
zum Studium nach England schicken wollen. Deshalb hat er mich auch hier auf die
englische Schule gegeben, nachdem meine Gouvernante gegangen war. Ich bin jetzt
im vierten Semester meines Studiums. Ich wollte als Assistentin bei meinem
Vater arbeiten, bis Heini und ich ...»
    «Wer ist Heini?»
    «Mein Vetter. Na ja, so ungefähr
jedenfalls ... Er und ich ...»
    Sätze über Heini waren offenbar
schwer zu vollenden. Aber Quin sah jetzt auch das Wunderkind in der Holzhütte
wieder vor sich. Er konnte Heini kein Gesicht geben, aber er erinnerte sich an
die schier endlosen Klavierübungen und an das bezopfte kleine Mädchen, das den
jungen Künstler mit frisch gepflückten Walderdbeeren versorgte. Ihre Liebe zu
dem begabten Jungen hatte also überdauert. «Erzählen Sie weiter.»
    «Es war nicht allzu schwierig. Wenn
man nicht gerade bei ihnen einwandern will, sind die Engländer gar nicht so.
Ich brauchte nicht einmal ein J auf meinem Paß, weil ich keine reine Jüdin bin.
Die Quäker waren großartig. Sie haben mich bei einem Studententransport
untergebracht, der von Graz aus reisen sollte.»
    Sobald der Tag der Abreise
feststand, schickten ihre Eltern sie nach Graz. Dort sollte sie warten, bis es
losging.
    «Sie wollten mich nämlich aus Wien
weghaben, weil ich einem SA-Mann einen Tritt gegeben hatte ...»
    «Guter Gott!»
    Sie machte eine
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