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Die Mestizin

Die Mestizin

Titel: Die Mestizin
Autoren: César Aira
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steinernen Ruhe. Als sie morgens aufwachte und das vom Schnee gedämpfte Schreien eines Fasans hörte, wurde sie von einer Unruhe erfasst. Daher stimmte sie, als Bob Ignaze ihr berichtete, was ihre Tagelöhner dachten, gnädig zu. Sie sagte:
    «Ich habe darüber nachgedacht und habe auch schon eine Idee, wohin wir gehen könnten. Wenn alle einverstanden sind, reisen wir sofort ab.»
    «Ich vermute», sagte Bob, «dass es sich um Carhué handelt, diese Touristenfalle.»
    «Keineswegs. Das ist zu weit weg. Um dorthin zu gelangen, würden wir mehr Zeit verlieren, als wir uns erlauben können. Und es gibt noch andere Gründe: Die Insel ist immer überlaufen, und wir suchen ja Ruhe. Ich denke da an einen Ort, der für einen Monat Nichtstun wie geschaffen ist. Ich kenne ihn noch nicht, und ihr kennt ihn, glaube ich, auch nicht, also werden wir nebenbei unsere Geographiekenntnisse erweitern. Es ist ein geschichtsträchtiger Ort, der mögliche Nachbarn abschreckt.»
    Sie hielt inne, um die Neugier auszukosten, die sie geweckt hatte. Bob sah sie verwirrt an.
    «Die Höhlen von Nueva Roma», sagte sie.
    Die Züge des jungen Mannes erhellten sich.
    «Großartig!», rief er. «Darauf hätte ich auch kommen müssen!»
    «Aber werden die anderen da hinwollen? Die Geschichte des Gebirges ist düster.»
    «Selbstverständlich. Diese Legenden spielen keine Rolle.»
    Bob betrachtete sich als Teil einer aufgeklärten Minderheit, die gegen jeglichen Aberglauben gefeit war. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen. Er ging sofort los, um den anderen die gute Neuigkeit zu überbringen.
    In wenigen Augenblicken waren die berühmten Höhlen, an die nie jemand dachte und von denen viele noch nie gehört hatten, das beherrschende Thema. Erna hatte ihre sämtlichen Karten studiert. Der Ort, den sie ausgewählt hatte, lag im Süden, zwei oder drei Tagesmärsche entfernt. Die Höhlen waren die einzige noch erhaltene Reliquie der Kolonie von Nueva Roma, einem Wallfahrtsort, zu dem vor dem Massaker Generationen von Indianern gepilgert waren und der heute in den Tiefen ungewisser Legenden ruhte. Die Höhlen waren in die Flanken der Berge von Bahía Blanca getrieben, wodurch man von dort aus einen prächtigen Blick haben musste, und die Meerluft mitten im Winter wäre das ideale Tonikum für ihre Gemütsschwankungen. Einer der Arbeiter behauptete, er habe die Höhlen als Kind besucht, und vertrieb ihnen die Zeit mit phantastischen Schilderungen.
    Insgesamt würden sie zwanzig Tage von der Zuchtfarm abwesend sein, ab dem nächsten Eierschlüpfen bei Vollmond. Nichts hielt sie zurück: Der Lebensrhythmus der Vögel war äußerst langsam, ihre Reaktionen so verzögert, dass einen schon das bloße Zuschauen nervös machte. Futter musste nur einmal am Tag ausgeteilt werden, Raubtiere und Insekten, die man fern halten musste, gab es nicht. In der sauberen Luft taten die Fasane nichts weiter, als mit abwesender Miene durch den Schnee zu stolzieren und sternchenförmige Spuren zu hinterlassen. Alles war so einfach, dass vier oder fünf Leute ausreichten, um die Fasane gut zu versorgen. Es meldeten sich Freiwillige, die wahrscheinlich Angst vor den Höhlen hatten.
    «Was müssen wir mitnehmen?», wurde gefragt.
    Das Gepäck war minimal: Orleansbaumkugeln, Pfeile und Bögen, Tabakkraut und Zigarettenpapier, Getränke und einige kleinere Gegenstände – Keramikbecher, Laternen usw. Die kleinen Pferde, die seit langem untätig und daher dicker denn je waren und deren Fell vor lauter Striegeln hell glänzte, waren noch aufgeregter als ihre Herrchen. Anfangs würden sie, weil sie so außer Form geraten waren, gemächlich gehen müssen. An den Tagen vor der Abreise ließ man sie am Ufer entlang traben, wo sie nach wenigen Schritten stehen blieben und eindrucksvoll keuchten. Ihre Bäuche waren ja auch kugelrund vor lauter Hafer und Luzernen und von dem ständigen Schlafen.
    «Wie ist das möglich?», fragten alle entsetzt. «Hoffentlich treffen wir unterwegs niemanden. Mit diesen Pferden würden wir ja zum Gespött der Leute.»
    Andere wiederum, darunter Erna, fanden sie elegant. Sie sagte, dass bei Hofe oft so dicke oder sogar noch dickere Pferde zu sehen seien.
    Einige Tage vergingen. Der Mond wurde rund, die Eier in den Brutkästen brachen auf, und heraus kamen Küken, die so rot waren wie Siegellacktropfen, ununterbrochen schrien und die Körner schluckten, die ihnen vorgeworfen wurden. Das war das Signal zum Aufbruch. Außerdem hatte es zu schneien
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