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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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alle Zeit der Welt, um miteinander zu reden.«
    Ob Unke sie belauscht hatte und von dem Spiegel unter Merles Kissen wusste? Doch Merle sagte sich, dass sie keinen Grund hatte, der Haushälterin zu misstrauen, ja, dass Unke bisher doch sehr freundlich und großzügig gewesen war. Allein die Tatsache, dass sie die Hälfte ihres Gesichts hinter einer Maske verbarg, musste sie nicht zu einem üblen Menschen machen.
    Sie dachte noch an Unkes Maske, als sie einschlief, und im Halbschlaf fragte sie sich, ob nicht jedermann bisweilen eine Maske trug.
    Eine Maske der Freude, eine Maske der Trauer, eine Maske der Gleichgültigkeit.
    Eine Maske aus Ihr-seht-mich-nicht.

Spiegelaugen

    Im Traum begegnete Merle der Fließenden Königin. Ihr war, als ritte sie auf einem Wesen aus weichem Glas durch die Gewässer der Lagune. Grüne und blaue Schemen umtosten sie, Millionen von Tropfen, so warm wie das Wasser im Inneren ihres Spiegels. Sie umschmeichelten ihre Wangen, ihren Hals, die Flächen ihrer offenen Hände, die sie der Strömung entgegenstreckte. Sie fühlte, dass sie eins war mit der Fließenden Königin, einem Geschöpf so unbegreiflich wie der Sonnenaufgang, wie die Kräfte des Gewitters und der Stürme, so unfassbar wie das Leben und der Tod. Sie tauchten unter der Wasseroberfläche dahin, doch Merle hatte keine Mühe zu atmen, denn die Königin war in ihr und hielt sie am Leben, so als wären sie beide Teile eines einzigen Körpers.
    Schwärme schillernder Fische zogen an ihrer Seite dahin, begleiteten sie auf ihrem Weg, dessen Ziel für Merle immer unwichtiger wurde. Allein die Reise war es, die zählte, das Einssein mit der Fließenden Königin, das Gefühl, die Lagune zu begreifen und an ihrer Schönheit teilzuhaben.
    Und obwohl nichts anderes geschah, als dass sie an der Seite der Königin dahinglitt, war es ein Traum so herrlich, wie Merle seit Monaten, seit Jahren keinen mehr geträumt hatte. Im Waisenhaus hatten ihre Nächte aus Kälte, den Bissen der Flöhe und der Furcht vor Diebstahl bestanden. Hier aber, im Hause Arcimboldos, war sie endlich in Sicherheit.
    Merle erwachte. Im ersten Moment glaubte sie, ein Geräusch hätte sie aus dem Schlaf gerissen. Doch da war nichts. Völlige Stille.
    Die Fließende Königin. Jeder hatte von ihr gehört. Und doch wusste niemand, was sie wirklich war. Als die Galeeren der Ägypter nach ihren Vernichtungsfeldzügen in aller Welt versucht hatten, in die venezianische Lagune einzudringen, war etwas Sonderbares geschehen. Etwas Wunderbares. Die Fließende Königin hatte sie in die Flucht geschlagen. Das ägyptische Imperium, die größte und grausamste Macht der Weltgeschichte, hatte mit eingekniffenem Schwanz abziehen müssen.
    Seither rankten sich Legenden um die Fließende Königin.
    Fest stand, sie war kein Wesen aus Fleisch und Blut. Sie erfüllte und durchdrang das Wasser der Lagune, die engen Kanäle der Stadt genauso wie die weiten Wasserfelder zwischen den Inseln. Die Ratsherren behaupteten, regelmäßig Gespräche mit ihr zu führen und gemäß ihren Wünschen zu handeln. Wenn sie tatsächlich je das Wort ergriffen hatte, dann allerdings nie in Gegenwart des einfachen Volkes.
    Manche sagten, sie sei nur so groß wie ein Tropfen, der mal hier, mal dort war; andere schworen, sie sei das Wasser selbst, jeder noch so kleine Schluck. Sie war mehr Kraft als Kreatur, und für viele gar eine Gottheit, die jedes Ding und jedes Wesen erfüllte.
    Der Feldzug des Tyrannen mochte Leid, Tod und Verheerung gesät, Amenophis und sein Imperium die Welt unterjocht haben - die Aura der Fließenden Königin aber schützte die Lagune nun schon seit über dreißig Jahren, und da war keiner in der Stadt, der sich ihr nicht verpflichtet fühlte. In den Kirchen wurden Messen zu ihren Ehren abgehalten, die Fischer opferten einen Teil jedes Fangs, und selbst die geheime Gilde der Diebe zeigte ihre Dankbarkeit, indem sie an bestimmten Tagen im Jahr ihre Finger bei sich behielt.
    Da - wieder ein Geräusch! Diesmal gab es keinen Zweifel.
    Merle richtete sich im Bett auf. Noch immer umspülten die Ausläufer des Traums ihre Sinne wie Meerschaum die Füße während einer Strandwanderung.
    Der Laut wiederholte sich. Ein metallisches Knirschen, das aus dem Hof heraufdrang. Merle kannte dieses Geräusch - der Deckel der Zisterne. So klang es überall in Venedig, wenn die schweren Metalldeckel der Brunnen geöffnet wurden. Die Zisternen waren in der ganzen Stadt zu finden, auf jedem öffentlichen Platz
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