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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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Schluchzen.
    Junipa!
    Merle versuchte, in dem dunklen Treppenhaus etwas zu erkennen. Die Umgebung war pechschwarz, nur durch ein hohes Fenster neben ihr fiel ein Hauch von Mondschein, eine vage Ahnung von Licht, das kaum ausreichte, um die Stufen unter ihren Füßen auszumachen. Im Gang zu ihrer Linken tickte eine Standuhr einsam in den Schatten, ein monströser Umriss wie ein Sarg, den jemand gegen die Wand gelehnt hatte.
    Inzwischen war sie sicher: Das Zischen und Schluchzen kam aus dem Inneren des Hauses. Von weiter unten. Aus der Werkstatt im ersten Stock.
    Merle huschte die Stufen hinunter. Der Korridor, der vom Treppenhaus abzweigte, hatte eine hohe Bogendecke. Sie folgte ihm, so leise und rasch sie konnte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Atem kam ihr laut vor wie das Rasseln eines der Dampfboote auf dem Canal Grande. Was, wenn sie und Junipa vom Regen in die Traufe geraten waren? Wenn sich Arcimboldo als ähnliches Scheusal herausstellte wie der alte Glasbläser auf Murano?
    Sie schrak zusammen, als sie neben sich eine Bewegung wahrnahm. Nur ihr eigenes Ebenbild, das über einen der zahllosen Spiegel an den Wänden huschte.
    Das Zischen ertönte jetzt häufiger und klang näher. Unke hatte ihnen nicht gezeigt, wo genau sich der Eingang zur Werkstatt befand. Sie hatte lediglich erwähnt, dass sie im ersten Stock lag. Hier aber gab es mehrere Türen, und alle waren hoch und dunkel und geschlossen. Merle blieb keine andere Möglichkeit, als den Geräuschen zu folgen. Das leise Schluchzen hatte sich nicht wiederholt. Die Vorstellung von Junipa, die hilflos einer unbekannten Gefahr ausgeliefert war, trieb Merle die Tränen in die Augen.
    Eines jedenfalls war gewiss: Sie würde nicht zulassen, dass ihrer neuen Freundin etwas zustieße, auch wenn das bedeuten mochte, dass man sie beide zurück ins Waisenhaus schickte. An Schlimmeres wollte sie gar nicht erst denken. Trotzdem stahlen sich die bösen Gedanken in ihr Hirn wie surrende kleine Stechmücken:
    Es ist Nacht. Und dunkel. In den Kanälen sind schon viele Menschen verschwunden. Keiner würde sich um zwei Waisenmädchen scheren. Zwei Mäuler weniger, die es zu füttern gilt, nichts sonst.
    Der Gang machte einen Knick nach rechts. An seinem Ende glühte der Umriss einer spitzen Doppeltür. Die Ritzen um die beiden Türflügel schimmerten golden wie Draht, den man in eine Kerzenflamme hält. Im Inneren der Werkstatt musste ein starkes Feuer brennen - der Kohleofen jener Maschine, die das urzeitliche Zischen und Schnauben ausstieß.
    Als Merle sich dem Tor auf Zehenspitzen näherte, sah sie, dass eine Rauchschicht über den Steinfliesen des Korridors lag wie feiner Bodennebel. Der Rauch drang unter der Tür hervor und wurde von dort aus in feurigen Schimmer getaucht.
    Und wenn in der Werkstatt ein Feuer ausgebrochen war? Du musst ruhig bleiben, hämmerte Merle sich ein. Ganz, ganz ruhig.
    Ihre Füße wühlten den Rauch am Boden auf und zauberten die Umrisse nebliger Geister in die Dunkelheit, vielfach vergrößert und verzerrt als Schatten an den Wänden. Das einzige Licht war die Glut in den Ritzen rund um das Tor.
    Schwärze, Nebel und das glühende Tor direkt vor ihr. Merle kam es vor wie der Eingang zur Hölle, so unwirklich, so beklemmend.
    Der beißende Geruch, den sie oben im Treppenhaus wahrgenommen hatte, war hier noch eindringlicher. Auch der schmierige Ölgestank wurde stärker. Es gab Gerüchte, dass in den vergangenen Monaten Höllenboten den Stadtrat aufgesucht und ihm die Hilfe ihrer Meister im Kampf gegen das Imperium angeboten hatten. Doch die Ratsherren hatten jeglichen Pakt mit dem Leibhaftigen ausgeschlagen; solange die Fließende Königin sie alle schützte, gab es keinen Grund dazu. Seit eine Expedition der National Geographic Society unter dem berühmten Professor Charles Burbridge im Jahre 1833 die Existenz der Hölle als realen Ort im Inneren der Erde nachgewiesen hatte, war es zu mehreren Begegnungen zwischen den Gesandten Satans und Vertretern der Menschheit gekommen. Genaues wusste allerdings niemand darüber, und das war vermutlich gut so.
    Merle schoss all das durch den Kopf, während sie die letzten Schritte bis zum Tor der Werkstatt machte. Unendlich vorsichtig legte sie eine Hand flach an das Holz. Sie hatte erwartet, dass es sich warm anfühlte, doch das erwies sich als Trugschluss. Das Holz war kühl und unterschied sich durch nichts von dem der anderen Türen im Haus. Auch die Metallklinke war kalt, als Merle mit dem Finger
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