Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
später, erwachte Merle aus wirren Träumen, als sie erneut das Knirschen des Brunnendeckels hörte, tief unten im Hof und sehr, sehr weit entfernt.
    Die ersten Tage in Arcimboldos Spiegelwerkstatt waren mühsam, denn Merle und Junipa wurden für all jene Arbeiten abgestellt, zu denen die drei älteren Lehrjungen keine Lust hatten. So musste Merle viele Male am Tag die feinen Spiegelkristalle ausfegen, die sich auf dem Boden der Werkstatt ablagerten wie Wüstensand, der in manchen Sommern über das Meer bis nach Venedig trieb.
    Wie Arcimboldo versprochen hatte, besserte sich Junipas Sehvermögen von Tag zu Tag. Noch immer nahm sie kaum mehr als Schemen wahr, doch sie war bereits in der Lage, sie voneinander zu unterscheiden, und sie legte Wert darauf, sich in der fremden Werkstatt ohne Hilfe zurechtzufinden. Dennoch gab man ihr leichtere Arbeiten als Merle, wenn auch nicht viel angenehmere. Ihr wurde keine echte Erholung nach den Strapazen jener ersten Nacht gegönnt, und sie musste endlose Mengen von Quarzsand aus Säcken abwiegen und in Messbecher umfüllen. Was genau Arcimboldo damit anstellte, blieb den Mädchen vorerst ein Rätsel.
    Überhaupt schien die Spiegelherstellung unter Arcimboldo wenig mit jener althergebrachten Tradition zu tun zu haben, auf die man in Venedig von alters her stolz war. Früher, im sechzehnten Jahrhundert, hatte man nur Auserwählte in die Kunst des Spiegelmachens eingeweiht. Sie alle lebten auf der Glasbläserinsel Murano unter strengster Bewachung. Dort schwelgten sie in Luxus, es fehlte ihnen an nichts - mit Ausnahme der Freiheit. Sobald sie ihre Ausbildung begonnen hatten, durften sie die Insel nicht mehr verlassen. Wer es dennoch versuchte, war des Todes. Die Agenten der Serenissima jagten abtrünnige Spiegelmacher quer durch Europa und brachten die Verräter zur Strecke, ehe sie das Geheimnis der Spiegelherstellung an Fremde weitergeben konnten. Muranos Spiegel waren die einzigen, die alle großen Adelshäuser Europas schmückten, denn nur in Venedig verstand man sich auf diese Kunst. Für die Stadt ließ sich das Geheimnis nicht in Gold aufwiegen - wohl aber für einen Einzelnen, und schließlich gelang es einigen Spiegelmachern, von Murano zu fliehen und ihre geheime Kunst an die Franzosen zu verkaufen. Diese töteten sie zum Dank, eröffneten bald darauf eigene Werkstätten und beraubten Venedig seines Monopols. Spiegel wurden bald in vielen Ländern hergestellt, und die Verbote und Strafen für Muranos Spiegelmacher gerieten in Vergessenheit.
    Arcimboldos Spiegel aber hatten ebenso viel mit Alchimie wie mit Glaskunst zu tun, und schon nach den ersten Tagen ahnte Merle, dass es Jahre dauern mochte, bis er sie einweihen würde. Selbst die drei Jungen, von denen der älteste, Dario, bereits über zwei Jahre im Haus lebte, hatten nicht den leisesten Schimmer, wie Arcimboldos Kunst vonstatten ging. Gewiss, sie hatten beobachtet, auch belauscht und spioniert, doch das wahre Geheimnis kannten sie nicht.
    Der schlanke, schwarzhaarige Dario war der Anführer von Arcimboldos Lehrlingen. In Anwesenheit des Meisters zeigte er stets gutes Benehmen, insgeheim aber war er noch immer derselbe Flegel, als der er vor zwei Jahren aus dem Waisenhaus hierher gekommen war. Während ihrer knapp bemessenen Freizeit war er großmäulig, manchmal auch tyrannisch, worunter allerdings mehr die beiden Jungen zu leiden hatten als Merle und Junipa. Tatsächlich zog er es vor, die Mädchen weitgehend zu ignorieren. Es missfiel ihm, dass Arcimboldo Mädchen als Lehrlinge aufgenommen hatte, wohl auch, weil sein Verhältnis zu Unke nicht das beste war. Er schien zu fürchten, dass Merle und Junipa sich im Streit auf die Seite der Haushälterin schlagen oder ihr einige seiner kleinen Geheimnisse verraten könnten - etwa die Tatsache, dass er regelmäßig von Arcimboldos gutem Rotwein probierte, den Unke in der Küche unter Verschluss hielt. Sie ahnte nicht, dass Dario sich in mühsamer Arbeit einen Nachschlüssel zum Schrank gefertigt hatte. Merle hatte Darios Diebereien bereits in der dritten Nacht entdeckt, durch Zufall, als sie ihn mit einem Krug voll Wein im Dunkeln auf dem Gang getroffen hatte. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, diese Beobachtung zu ihren Gunsten zu missbrauchen, doch offenbar war es genau das, was Dario befürchtete. Von dem Zeitpunkt an hatte er sich ihr gegenüber noch abweisender verhalten, regelrecht feindselig, wenngleich er nicht wagte, einen offenen Streit mit ihr anzuzetteln.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher