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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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machen. Junge Männer machten sich oft einen Spaß daraus, unerfahrene Meermädchen, die sich im Labyrinth der venezianischen Kanäle verirrt hatten, in die Enge zu treiben; wenn eines dabei zu Tode kam, fand man das schade, gewiss, doch niemand machte den Jägern einen Vorwurf.
    Meist aber wurden die Meerjungfrauen gefangen und in Bassins im Arsenal gesperrt, bis sich ein Grund fand, sie durchzufüttern. Häufig waren dies Bootsrennen, seltener Fischsuppe - auch wenn der Geschmack ihrer langen Schuppenschwänze Legende war. Er übertraf gar Delikatessen wie Sirene und Leviathan.
    »Sie tun mir Leid«, sagte das zweite Mädchen, das neben Merle in der Gondel saß. Es war ebenso ausgehungert und sogar noch knochiger. Sein hellblondes, fast weißes Haar fiel ihm weit über den Rücken. Merle wusste nichts über ihre Begleiterin, nur, dass sie ebenfalls aus einem Waisenhaus stammte, wenn auch aus einem anderen Viertel Venedigs. Sie war ein Jahr jünger als Merle, dreizehn, hatte sie gesagt. Ihr Name war Junipa.
    Junipa war blind.
    »Die Meerjungfrauen tun dir Leid?«, fragte Merle.
    Das blinde Mädchen nickte. »Ich konnte vorhin ihre Stimmen hören.«
    »Aber sie haben gar nichts gesagt.«
    »Unterwasser schon«, widersprach Junipa. »Sie haben gesungen, die ganze Zeit über. Ich hab ziemlich gute Ohren, weißt du. Viele Blinde haben das.«
    Merle starrte Junipa entgeistert an, ehe ihr bewusst wurde, wie unhöflich das war, ganz gleich, ob das Mädchen es nun sehen konnte oder nicht.
    »Ja«, sagte Merle schließlich, »mir geht’s genauso. Ich finde, sie wirken immer ein wenig … ich weiß nicht, irgendwie wehmütig. So als hätten sie etwas verloren, das ihnen viel bedeutet hat.«
    »Ihre Freiheit?«, schlug der Gondoliere vor, der ihnen zugehört hatte.
    »Mehr als das«, entgegnete Merle. Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, was sie meinte. »Vielleicht die Fähigkeit, sich zu freuen.« Das traf es immer noch nicht ganz genau, kam aber nahe heran.
    Sie war überzeugt, dass die Meerjungfrauen ebenso menschlich waren wie sie selbst. Sie waren intelligenter als manch einer, den sie im Waisenhaus kennen gelernt hatte, und sie besaßen Gefühle. Sie waren anders, gewiss, aber das gab niemandem das Recht, sie wie Tiere zu halten, sie vor Boote zu spannen oder nach Belieben durch die Lagune zu scheuchen.
    Das Verhalten der Venezianer ihnen gegenüber war grausam und ganz und gar unmenschlich. Alles Dinge, die man eigentlich den Meerjungfrauen nachsagte.
    Merle seufzte und blickte hinab ins Wasser. Der Bug der Gondel schnitt wie eine Messerklinge durch die smaragdgrüne Oberfläche. In den schmalen Seitenkanälen war das Wasser sehr ruhig, nur am Canal Grande kamen manchmal stärkere Wellen auf. Hier aber, drei, vier Ecken von Venedigs Hauptschlagader entfernt, herrschte völlige Stille.
    Die Gondel glitt lautlos unter gewölbten Brücken hindurch. Manche waren mit grinsenden Steinfratzen verziert; auf ihren Köpfen wuchs buschiges Unkraut wie grüne Haarbüschel.
    Zu beiden Seiten des Kanals reichten die Fassaden der Häuser geradewegs ins Wasser hinab. Keines war niedriger als vier Stockwerke. Vor ein paar hundert Jahren, als Venedig noch eine starke Handelsmacht gewesen war, hatte man von den Kanälen aus die Ware direkt in die Paläste der reichen Händlerfamilien verladen. Heute aber standen viele der alten Gemäuer leer, die meisten Fenster waren dunkel und die Holztore auf Höhe der Wasseroberfläche morsch und von Feuchtigkeit zerfressen - und das nicht erst, seit sich der Belagerungsring der ägyptischen Armee um die Stadt geschlossen hatte. Nicht an allem trugen der wieder geborene Pharao und seine Sphinx-Kommandanten die Schuld.
    »Löwen!«, entfuhr es Junipa plötzlich.
    Merle schaute am Ufer entlang zur nächsten Brücke. Sie entdeckte nirgends eine Menschenseele, geschweige denn die steinernen Löwen der Stadtgarde. »Wo denn? Ich sehe keinen.«
    »Ich kann sie riechen«, sagte Junipa beharrlich. Sie schnupperte lautlos in die Luft, und Merle bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Gondoliere hinter ihnen fassungslos den Kopf schüttelte.
    Sie versuchte, es Junipa gleichzutun, doch die Gondel musste fast fünfzig Meter weitergleiten, ehe Merles Nasenflügel etwas auffingen. Den Geruch von feuchtem Gestein, muffig und ein wenig modrig, so stark, dass er selbst den Odem der versinkenden Stadt überdeckte.
    »Du hast Recht.« Es war unzweifelhaft der Gestank der Steinlöwen, die von den venezianischen
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