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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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und die Mädchen bohrten nicht weiter. Sie würden noch genug Zeit haben, alles Wichtige über die Werkstatt und ihre Kundschaft herauszufinden. Gute und böse Stiefmütter, wiederholte Merle in Gedanken. Schöne und hässliche Hexen. Das klang aufregend.
    Das Zimmer, das Unke ihnen zuwies, war nicht groß. Es roch muffig, war aber erfreulich hell, da es im dritten Stock des Gebäudes lag. In Venedig bekommt man das Tageslicht, geschweige denn den Sonnenschein, erst ab der zweiten Etage zu Gesicht - wenn man Glück hat. Das Fenster dieses Zimmers jedoch blickte über ein Meer rotgelber Schindeln. Nachts würden sie den Sternenhimmel, tagsüber die Sonne sehen können - vorausgesetzt, ihre Arbeit ließ ihnen Zeit dazu.
    Der Raum lag an der Rückseite der Werkstatt. Tief unter dem Fenster konnte Merle einen kleinen Hof mit einer runden Zisterne erkennen. Die gegenüberliegenden Häuser schienen alle leer zu stehen. Zu Beginn des Kriegs mit dem Pharaonenreich hatten viele Venezianer die Stadt verlassen und waren aufs Festland geflohen - ein verhängnisvoller Fehler, wie sich später herausgestellt hatte.
    Unke verließ die Mädchen mit dem Hinweis, dass sie ihnen in einer Stunde etwas zu essen bringen würde. Anschließend sollten sich die beiden schlafen legen, damit sie an ihrem ersten Arbeitstag ausgeruht sein würden.
    Junipa tastete sich am Bettpfosten entlang und ließ sich sanft auf der Matratze nieder. Vorsichtig strich sie mit beiden Händen über die Bettdecke.
    »Hast du die Decke gesehen? So flauschig!«
    Merle setzte sich neben sie. »Sie muss teuer gewesen sein«, sagte sie versonnen. Im Waisenhaus waren die Decken dünn und kratzig gewesen, und es gab allerlei Ungeziefer, das einem im Schlaf die Haut zerbiss.
    »Scheint so, als hätten wir Glück gehabt«, sagte Junipa.
    »Noch haben wir Arcimboldo nicht getroffen.«
    Junipa hob eine Augenbraue. »Wer ein blindes Mädchen aus einem Waisenhaus holt, um ihm etwas beizubringen, kann kein schlechter Mensch sein.«
    Merle blieb argwöhnisch. »Arcimboldo ist bekannt dafür, dass er Waisen als Schüler annimmt. Welche Eltern würden ihr Kind auch schon an einem Ort in die Lehre schicken, der sich Kanal der Ausgestoßenen nennt?«
    »Aber ich kann nicht sehen, Merle! Ich war mein ganzes Leben lang allen nur ein Klotz am Bein.«
    »Haben sie dir das im Heim eingeredet?« Merle sah Junipa forschend an. Dann ergriff sie die schmale weiße Hand des Mädchens. »Ich bin jedenfalls froh, dass du hier bist.«
    Junipa lächelte verlegen. »Meine Eltern haben mich ausgesetzt, als ich gerade ein Jahr alt war. Sie haben mir einen Brief ins Kleid gesteckt. Darin stand, dass sie keinen Krüppel großziehen wollten.«
    »Das ist abscheulich.«
    »Wie bist du ins Heim gekommen?«
    Merle seufzte. »Ein Aufseher im Waisenhaus hat einmal erzählt, wie man mich in einem Weidenkorb gefunden hat, der auf dem großen Kanal trieb.« Sie zuckte mit den Schultern. »Klingt wie im Märchen, was?«
    »Wie in einem traurigen.«
    »Ich war damals erst ein paar Tage alt.«
    »Wer wirft denn ein Kind in den Kanal?«
    »Und wer setzt es aus, weil es nicht sehen kann?«
    Die beiden lächelten sich an. Auch wenn Junipas weiße Augäpfel durch sie hindurchschauten, hatte Merle doch das Gefühl, dass ihre Blicke mehr als leere Gesten waren. Durch Horchen und Tasten nahm Junipa vermutlich mehr wahr als die meisten anderen Menschen.
    »Deine Eltern wollten nicht, dass du ertrinkst«, stellte Junipa fest. »Sonst hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, dich in einen Weidenkorb zu legen.«
    Merle blickte zu Boden. »Sie haben noch etwas mit in den Korb gelegt. Willst du es -« Sie verstummte.
    »Sehen?«, führte Junipa den Satz mit einem Grinsen zu Ende.
    »Tut mir Leid.«
    »Das muss es nicht. Ich kann es ja anfassen. Hast du es dabei?«
    »Immer, egal, wohin ich gehe. Einmal hat ein Mädchen im Waisenhaus versucht, es zu stehlen. Ich hab ihr fast alle Haare ausgerissen.« Sie lachte ein wenig verschämt. »Na ja, damals war ich erst acht.«
    Auch Junipa lachte. »Dann werde ich meine in der Nacht wohl lieber zu einem Knoten binden.«
    Merle berührte sanft Junipas Haar. Es war dick und so hell wie das einer Schneekönigin.
    »Also?«, fragte Junipa. »Was lag noch in deinem Weidenkorb?«
    Merle stand auf, öffnete ihr Bündel und zog ihren kostbarsten Besitz hervor - genau genommen war es ihr einziger, abgesehen von dem schlichten, geflickten Kleid, das sie zum Wechseln dabeihatte.
    Es war ein
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