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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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Handspiegel, ungefähr so groß wie ihr Gesicht, oval und mit einem kurzen Griff. Der Rahmen war aus einer dunklen Legierung gefertigt, die so mancher im Waisenhaus mit gierigen Augen für angelaufenes Gold gehalten hatte. In Wahrheit jedoch war es kein Gold und auch kein anderes Metall, von dem irgendwer jemals gehört hatte, denn es war so hart wie Diamant.
    Das Ungewöhnlichste an diesem Spiegel aber war seine Spiegelfläche. Sie bestand nicht aus Glas, sondern aus Wasser. Man konnte hineingreifen und kleine Wellen erzeugen, doch egal, wie man den Spiegel drehte, nie lief auch nur ein einziger Tropfen heraus.
    Merle legte Junipa den Griff in die offene Hand, und sogleich schlossen sich die Finger des blinden Mädchens darum. Statt den Gegenstand zu betasten, führte sie ihn erst einmal ans Ohr.
    »Er flüstert«, sagte sie leise.
    Merle war überrascht. »Flüstert? Ich hab nie etwas gehört.«
    »Du bist ja auch nicht blind.« Eine kleine, senkrechte Falte war auf Junipas Stirn erschienen. Sie konzentrierte sich. »Es sind mehrere. Ich kann die Worte nicht verstehen, es sind zu viele Stimmen, und sie sind zu weit entfernt. Aber sie flüstern miteinander.« Junipa senkte den Spiegel und fuhr mit ihrer Linken um den ovalen Rahmen. »Ist es ein Bild?«, fragte sie.
    »Ein Spiegel«, erwiderte Merle. »Aber erschrick nicht, er ist aus Wasser.«
    Junipa verriet durch nichts ihr Erstaunen, so als sei dies etwas ganz Alltägliches. Erst als sie eine Fingerspitze ausstreckte und die Wasseroberfläche berührte, zuckte sie zusammen.
    »Es ist kalt«, stellte sie fest.
    Merle schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Das Wasser im Spiegel ist immer warm. Und man kann etwas hineinstecken, aber wenn man es wieder herauszieht, ist es trocken.«
    Junipa berührte das Wasser noch einmal. »Für mich fühlt es sich eiskalt an.«
    Merle nahm ihr den Spiegel aus der Hand und streckte Zeige- und Mittelfinger hinein. »Warm«, sagte sie erneut und nun fast ein wenig trotzig. »Es war noch nie kalt, so weit ich mich zurückerinnern kann.«
    »Hat es jemals ein anderer berührt? Ich meine, außer dir.«
    »Noch keiner. Nur einmal wollte ich es einer Nonne erlauben, die zu uns ins Waisenhaus kam, aber sie hatte schreckliche Angst davor und hat gesagt, es sei ein Werk des Teufels.«
    Junipa überlegte. »Vielleicht fühlt sich das Wasser für jeden außer dem Besitzer kalt an.«
    Merle runzelte die Stirn. »Mag schon sein.« Sie schaute auf die Oberfläche, die noch immer in leichter Bewegung war. Verzerrt und zitternd blickte ihr Spiegelbild zurück.
    »Hast du vor, ihn Arcimboldo zu zeigen?«, fragte Junipa. »Er kennt sich schließlich aus mit Zauberspiegeln.«
    »Ich glaube nicht. Zumindest nicht sofort. Vielleicht später mal.«
    »Du hast Angst, dass er ihn dir abnimmt.«
    »Hättest du das nicht?« Merle seufzte. »Es ist das Einzige, was mir von meinen Eltern geblieben ist.«
    »Du bist ein Teil deiner Eltern, vergiss das nicht.«
    Merle verstummte für einen Moment. Sie dachte nach, ob sie Junipa vertrauen konnte, ob sie dem blinden Mädchen die ganze Wahrheit sagen sollte. Schließlich schaute sie sich sichernd zur Tür um und flüsterte: »Das Wasser ist noch nicht alles.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich kann meinen ganzen Arm in den Spiegel stecken, und er kommt nicht auf der anderen Seite heraus.« Tatsächlich war die Rückseite des Ovals aus demselben harten Metall wie der Rahmen.
    »Tust du es gerade?«, fragte Junipa staunend. »Ich meine, jetzt im Moment?«
    »Wenn du möchtest.« Merle ließ erst ihre Finger in das Innere des Wasserspiegels gleiten, dann ihre Hand, schließlich den ganzen Arm. Es war, als wäre er völlig aus dieser Welt verschwunden.
    Junipa streckte ihre Hand aus und tastete sich von Merles Schulter bis zum Spiegelrahmen. »Wie fühlt es sich an?«
    »Sehr warm«, beschrieb Merle. »Angenehm, aber nicht heiß.« Sie senkte ihre Stimme. »Und manchmal spüre ich noch etwas anderes.«
    »Was denn?«
    »Eine Hand.«
    »Eine… Hand?«
    »Ja. Sie greift nach meiner, ganz sanft, und hält sie.«
    »Sie hält dich fest?«
    »Nicht fest. Einfach nur… na ja, sie hält eben meine Hand. So wie Freundinnen das tun. Oder -«
    »Oder Eltern?« Junipa sah sie gespannt an. »Glaubst du, dass dein Vater oder deine Mutter da drinnen deine Hand hält?«
    Merle war es unangenehm, darüber zu sprechen. Trotzdem spürte sie, dass sie Junipa vertrauen konnte. Nach kurzem Zögern überwand sie ihre Scheu. »Es
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