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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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wäre doch möglich, oder? Immerhin waren sie es, die mir den Spiegel in den Korb gelegt haben. Vielleicht haben sie das getan, um irgendwie Kontakt mit mir zu halten, damit ich weiß, dass sie noch da sind… irgendwo.«
    Junipa nickte langsam, aber sie wirkte nicht völlig überzeugt. Eher verständnisvoll. Ein wenig traurig sagte sie: »Ich hab mir lange Zeit vorgestellt, dass mein Vater ein Gondoliere ist. Ich weiß, dass die Gondolieri die schönsten Männer Venedigs sind… Ich meine, jeder weiß das… auch wenn ich sie nicht sehen kann.«
    »Sie sind nicht alle schön«, wandte Merle ein.
    Junipas Stimme klang verträumt. »Und ich hab mir ausgemalt, dass meine Mutter eine Wasserträgerin vom Festland ist.«
    Von den Wasserträgerinnen, die auf den Straßen aus großen Krügen Trinkwasser verkauften, behauptete man, sie seien die anmutigsten Frauen weit und breit. Und wie im Fall der Gondolieri galt, dass auch diese Erzählungen einen wahren Kern besaßen.
    Junipa fuhr fort: »Ich hab mir also vorgestellt, dass meine Eltern diese beiden wunderschönen Menschen sind, so als würde das irgendetwas über mich selbst aussagen. Über mein wahres Ich. Ich habe sogar versucht, sie zu entschuldigen: Zwei so perfekte Geschöpfe, habe ich mir gesagt, können sich nicht mit einem kranken Kind sehen lassen. Ich hab mir eingeredet, dass es ihr gutes Recht war, mich auszusetzen.« Plötzlich schüttelte sie den Kopf, so heftig, dass ihr weißblondes Haar wild umherflog. »Heute weiß ich, dass das alles Unsinn ist. Vielleicht sind meine Eltern schön, oder vielleicht sind sie hässlich. Vielleicht sind sie auch gar nicht mehr am Leben. Aber das hat nichts mit mir zu tun, verstehst du? Ich bin ich, das ist alles, was zählt. Und meine Eltern haben Unrecht getan, weil sie ein hilfloses Kind einfach auf die Straße geworfen haben.«
    Merle hatte betroffen zugehört. Sie wusste, was Junipa meinte, auch wenn sie nicht verstand, was das mit ihr und der Hand in ihrem Spiegel zu tun hatte.
    »Du darfst dir nichts vormachen, Merle«, sagte das blinde Mädchen und klang dabei viel weiser, als sie es in Anbetracht ihrer Jugend hätte sein dürfen. »Deine Eltern wollten dich nicht. Deshalb haben sie dich in diesen Weidenkorb gelegt. Und wenn dir jemand in deinem Spiegel die Hand reicht, dann muss das nicht zwangsläufig deine Mutter oder dein Vater sein. Das, was du fühlst, ist magisch, Merle. Und mit Magie muss man vorsichtig sein.«
    Einen kurzen Moment lang spürte Merle Wut in sich aufsteigen. Verletzt sagte sie sich, dass Junipa nicht das Recht hatte, so etwas zu behaupten, sie ihrer Hoffnungen zu berauben, all der Träume, die sie gehabt hatte, wenn der andere im Spiegel ihre Hand hielt. Doch dann verstand sie, dass Junipa nur ehrlich war und dass Ehrlichkeit das schönste Geschenk ist, das man einem anderen zu Beginn einer Freundschaft machen kann.
    Merle schob den Spiegel unter ihr Kopfkissen. Sie wusste, dass er nicht zerbrechen würde und dass sich der Stoff noch so fest in die Wasseroberfläche pressen konnte, ohne dabei nass zu werden oder die Flüssigkeit aufzusaugen. Dann setzte sie sich zurück zu Junipa und legte den Arm um sie. Das blinde Mädchen erwiderte die Umarmung, und so hielten sie einander wie Schwestern, wie zwei Menschen, die keine Geheimnisse voreinander haben. Es war ein so überwältigendes Gefühl der Nähe und des Einverständnisses, dass es für eine Weile sogar die Wärme der Hand im Spiegel übertraf, ihre Ruhe und Stärke, mit der sie Merles Vertrauen gewonnen hatte.
    Als die Mädchen sich voneinander lösten, sagte Merle: »Du kannst ihn einmal ausprobieren, wenn du magst.«
    »Den Spiegel?« Junipa schüttelte den Kopf. »Es ist deiner. Würde er wollen, dass ich meine Hand hineinstecke, würde das Wasser auch für mich warm sein.«
    Merle spürte, dass Junipa Recht hatte. Ob es nun eine Hand ihrer Eltern war, die sie dort drinnen berührte, oder die Finger von etwas völlig anderem - fest stand, sie akzeptierten nur Merle. Es mochte sogar gefährlich sein, wenn ein anderer so tief in den Raum hinter dem Spiegel vordrang.
    Die Mädchen saßen noch zusammen auf dem Bett, als die Tür aufging und Unke zurückkam. Auf einem Holztablett brachte sie das Abendessen, deftige Brühe mit Gemüse und Basilikum, dazu weißes Brot und einen Krug mit Wasser aus der Zisterne im Hof.
    »Geht schlafen, wenn ihr ausgepackt habt«, lispelte die Frau hinter der Maske, als sie das Zimmer verließ. »Ihr habt noch
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