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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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und in den meisten Höfen. Ihre runden Ummauerungen waren mit Mustern und Fabelwesen aus Stein verziert. Riesige, halbrunde Deckel schützten das kostbare Trinkwasser vor Schmutz und Ratten.
    Aber wer machte sich um diese Uhrzeit an einer Zisterne zu schaffen? Merle stand auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Ein wenig wacklig auf den Beinen, ging sie zum Fenster hinüber.
    Im Mondlicht sah sie gerade noch, wie eine Gestalt über den Rand der Zisterne kletterte und in den dunklen Brunnenschacht glitt. Einen Augenblick später griffen Hände aus der Finsternis herauf, packten den Rand des Deckels und zerrten ihn knirschend zurück auf die Öffnung.
    Merle stieß scharf den Atem aus. Instinktiv duckte sie sich, obwohl die Gestalt längst im Brunnen verschwunden war.
    Unke! Es gab keinen Zweifel, dass sie der Schemen unten im Hof gewesen war. Aber was trieb die Haushälterin dazu, mitten in der Nacht in einen Brunnen zu klettern?
    Merle fuhr herum und wollte Junipa wecken.
    Das Bett war leer.
    »Junipa?«, flüsterte sie angespannt. Aber es gab keinen Winkel des kleinen Zimmers, den sie von hier aus nicht hätte einsehen können. Kein Versteck.
    Es sei denn.
    Merle bückte sich und schaute unter die beiden Betten. Aber auch dort gab es keine Spur von dem Mädchen.
    Sie ging zur Tür. Kein Riegel, den sie am Abend hätten vorschieben können, kein Schloss. Draußen auf dem Gang herrschte Stille.
    Merle atmete tief durch. Der Boden unter ihren nackten Füßen war empfindlich kalt. Rasch zog sie ihr Kleid über und fuhr mit den Füßen in ihre ausgetretenen Lederschuhe; sie reichten bis über die Knöchel und mussten geschnürt werden, was ihr im Augenblick viel zu viel Zeit in Anspruch nahm. Aber sie konnte sich unmöglich auf die Suche nach Junipa machen und dabei Gefahr laufen, über ihre Schnürsenkel zu stolpern. Hastig machte sie sich an die Arbeit, doch ihre Finger zitterten, und es dauerte doppelt so lange wie sonst, die Schuhe zuzubinden.
    Schließlich schlüpfte sie hinaus auf den Gang und zog die Tür zu. Irgendwo in der Ferne ertönte ein bedrohliches Zischen, nicht von einem Tier, eher von einer Dampfmaschine, aber sie war nicht sicher, ob die Quelle des Geräuschs hier im Haus zu finden war. Bald darauf vernahm sie das Zischen erneut, gefolgt von einem rhythmischen Stampfen. Dann herrschte wieder Stille. Erst als Merle schon auf der Treppe nach unten war, fiel ihr ein, dass es am Kanal der Ausgestoßenen nur noch zwei bewohnte Häuser gab - Arcimboldos Spiegelwerkstatt und die des Webers am anderen Ufer.
    Es roch sonderbar im ganzen Haus, ein wenig nach Schmieröl, nach poliertem Stahl und dem scharfen Geruch, den sie aus den Glaswerkstätten der Laguneninsel Murano kannte; sie war ein einziges Mal dort gewesen, als ein alter Glasmacher erwogen hatte, sie bei sich aufzunehmen. Er hatte ihr gleich nach ihrer Ankunft befohlen, ihm im Bad den Rücken zu schrubben. Merle hatte gewartet, bis er im Wasser saß, und war dann so schnell sie konnte zurück zur Anlegestelle gelaufen. In einem der Boote versteckt, war sie dann wieder in die Stadt gelangt. Dem Waisenhaus waren solche Fälle nicht unbekannt, und obwohl die Aufseher keineswegs glücklich waren, sie wieder zu sehen, bewiesen sie genug Anstand, sie nicht erneut nach Murano zu schicken.
    Merle erreichte den Treppenabsatz im zweiten Stock. Bisher war sie niemandem begegnet und hatte kein Anzeichen von Leben entdeckt. Wo wohl die anderen Lehrlinge schliefen? Vermutlich wie Junipa und sie selbst im dritten Stock. Unke, das wusste sie immerhin, war nicht im Haus - sie vermied es, sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, was die merkwürdige Frau in der Zisterne zu suchen hatte.
    Blieb nur Arcimboldo selbst. Und natürlich Junipa. Was, wenn sie nur austreten musste? Der schmale Erker, in dem ein runder Schacht im Boden geradewegs hinaus in den Kanal führte, befand sich ebenfalls im dritten Stock. Dort hatte Merle nicht nachgesehen, und jetzt verfluchte sie sich dafür. Das Naheliegende hatte sie vergessen - vielleicht, weil es im Waisenhaus stets ein schlechtes Zeichen war, wenn eines der Kinder nachts aus seinem Bett verschwand. Nur wenige waren jemals wieder aufgetaucht.
    Sie wollte gerade umkehren, um nachzuschauen, als das Zischen abermals ertönte. Es klang noch immer künstlich, maschinell, und der Ton ließ sie erschauern.
    Ganz kurz nur glaubte sie noch etwas anderes zu hören, leise im Hintergrund des Zischens.
    Ein
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