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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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darüber strich.
    Sie überlegte, ob sie einfach eintreten sollte. Es war das Einzige, was sie tun konnte. Sie war allein, und sie bezweifelte, dass es irgendwen in diesem Haus gab, der ihr beistehen würde.
    Gerade hatte sie ihren Entschluss gefasst, als die Klinke von der anderen Seite hinabgedrückt wurde. Merle wirbelte herum, wollte fliehen, sprang dann aber in den Schutz des linken Türflügels, während der rechte nach innen schwang.
    Ein breiter Strahl aus Glutlicht ergoss sich über den Rauch am Boden. Wo Merle gerade noch gestanden hatte, wurden die Schwaden vom Luftzug beiseite gefegt. Dann fiel ein Schatten über den Lichtstreif. Jemand trat heraus auf den Korridor.
    Merle drückte sich, so tief sie konnte, in den Schutz des Türflügels. Sie war keine zwei Meter von der Gestalt entfernt.
    Schatten können Menschen bedrohlich machen, auch wenn sie es in Wahrheit gar nicht sind. Sie machen Winzlinge groß und Schwächlinge so breit wie Elefanten. So war es auch in diesem Fall.
    Der mächtige Schatten schrumpfte, je weiter sich der kleine alte Mann von der Lichtquelle entfernte. Wie er so dastand, ohne Merle zu bemerken, wirkte er fast ein wenig lächerlich in seinen viel zu langen Hosen und dem Kittel, den Ruß und Rauch fast schwarz gefärbt hatten. Er hatte wirres graues Haar, das nach allen Seiten abstand. Sein Gesicht glänzte. Ein Schweißtropfen rann seine Schläfe hinab und verfing sich in seinem buschigen Backenbart.
    Statt sich zu Merle umzudrehen, wandte er sich zurück zur Tür und streckte die Hand in Richtung des Lichts aus. Ein zweiter Schatten verschmolz am Boden mit dem seinen.
    »Komm, mein Kind«, sagte er mit sanfter Stimme. »Komm heraus.«
    Merle regte sich nicht. So hatte sie sich ihr erstes Treffen mit Arcimboldo nicht vorgestellt. Nur die Ruhe und Gelassenheit, die in der Stimme des alten Mannes lagen, machten ihr ein wenig Hoffnung.
    Dann aber sagte der Spiegelmacher: »Die Schmerzen werden gleich aufhören.«
    Schmerzen?
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Arcimboldo zur offenen Tür gewandt. »Du wirst dich schnell daran gewöhnen, glaub mir.«
    Merle wagte kaum zu atmen.
    Arcimboldo machte zwei, drei Schritte rückwärts den Gang hinab. Dabei hielt er beide Hände ausgestreckt, eine Aufforderung, ihm zu folgen.
    »Komm näher… Ja, genau so. Ganz langsam.«
    Und Junipa kam. Mit kleinen, unsicheren Schritten trat sie durch die Tür auf den Gang. Sie bewegte sich steif und sehr vorsichtig.
    Sie kann doch nichts sehen, dachte Merle verzweifelt. Warum nur ließ Arcimboldo sie ohne Hilfe an einem Ort umherirren, der ihr nicht vertraut war? Warum wartete er nicht, bis sie seine Hand ergreifen konnte? Stattdessen ging er immer weiter rückwärts, entfernte sich von der Tür - und hätte eigentlich jeden Moment Merle entdecken müssen, die sich in den Schatten versteckte. Wie gebannt starrte sie auf Junipa, die an ihr vorbei den Korridor hinabtappte. Auch Arcimboldo hatte nur Augen für das Mädchen.
    »Du machst das sehr gut«, sagte er aufmunternd. »Sehr, sehr gut.«
    Der Rauch am Boden zerfaserte allmählich. Aus dem Inneren der Werkstatt quollen keine neuen Schwaden mehr. Das flammende Glutlicht tauchte den Gang in waberndes, düsteres Orange.
    »Es ist alles so… verschwommen«, flüsterte Junipa kläglich.
    Verschwommen?, dachte Merle erstaunt.
    »Das wird sich bald legen«, sagte der Spiegelmacher. »Warte nur ab - morgen früh, bei Tageslicht, sieht alles schon ganz anders aus. Du musst mir nur vertrauen. Komm noch ein wenig näher.«
    Junipas Schritte wurden jetzt sicherer. Ihr vorsichtiger Gang rührte nicht etwa daher, dass sie nichts sehen konnte. Ganz im Gegenteil.
    »Was erkennst du?«, fragte Arcimboldo. »Was genau?«
    »Ich weiß nicht. Etwas bewegt sich.«
    »Das sind nur Schatten. Hab keine Angst.«
    Merle traute ihren Ohren nicht. War es möglich, war es tatsächlich möglich, dass Arcimboldo Junipa das Augenlicht geschenkt hatte?
    »Ich habe noch nie sehen können«, sagte Junipa verwirrt. »Ich war schon immer blind.«
    »Ist das Licht rot, das du siehst?«, wollte der Spiegelmacher wissen.
    »Ich weiß nicht, wie Licht aussieht«, gab sie unsicher zurück. »Und ich kenne keine Farben.«
    Arcimboldo verzog das Gesicht, als ärgere er sich über sich selbst. »Dumm von mir. Daran hätte ich denken müssen.« Er blieb stehen und wartete, bis er Junipas ausgestreckte Hände ergreifen konnte. »Du wirst eine Menge dazulernen in den nächsten Wochen und
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