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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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Stadtgardisten als Reittiere und Kampfgefährten eingesetzt wurden.
    Im selben Augenblick trat eines der mächtigen Tiere vor ihnen auf eine Brücke. Es war aus Granit, eine der häufigsten Rassen unter den steinernen Löwen der Lagune. Es gab andere, stärkere, doch das machte letztlich keinen Unterschied. Wer einem Granitlöwen in die Klauen fiel, war so gut wie verloren. Die Löwen waren von alters her das Wahrzeichen der Stadt, schon zu den Zeiten, als ein jeder von ihnen geflügelt und in der Lage gewesen war, sich in die Luft zu erheben. Heute gab es nur noch wenige, die das vermochten, eine streng regulierte Zahl von Einzeltieren, die zum persönlichen Schutz der Stadträte abgestellt waren. Allen anderen hatten die Zuchtmeister auf der Löweninsel, oben im Norden der Lagune, das Fliegen ausgetrieben. Sie kamen mit verkümmerten Schwingen zur Welt, die sie als traurige Anhängsel auf ihren Rücken trugen. Die Soldaten der Stadtgarde befestigten daran ihre Sättel.
    Auch der Granitlöwe auf der Brücke war nur ein gewöhnliches Tier aus Stein. Sein Reiter trug die bunte Uniform der Gardisten. Ein Gewehr baumelte an einem Lederriemen über seiner Schulter, betont lässig, ein Zeichen militärischer Arroganz. Die Soldaten hatten die Stadt nicht vor dem ägyptischen Imperium schützen können - das hatte die Fließende Königin an ihrer statt getan -, doch seit Ausrufung des Belagerungszustands vor über dreißig Jahren hatte die Garde beständig an Macht gewonnen. Mittlerweile wurde sie in ihrer Überheblichkeit nur noch von ihren Befehlsgebern, den Stadträten, übertroffen, die in der gebeutelten Stadt nach Gutdünken schalteten und walteten. Möglicherweise versuchten die Räte und ihre Soldaten ja, sich selbst etwas zu beweisen - schließlich wusste jeder, dass sie im Ernstfall nicht in der Lage waren, Venedig zu verteidigen. Doch solange die Fließende Königin die Feinde von der Lagune fern hielt, konnten sie sich selbst in ihrer Allmacht feiern.
    Der Gardist auf der Brücke blickte mit einem Grinsen zur Gondel herab, zwinkerte Merle dann zu und gab dem Löwen die Sporen. Mit einem Schnauben schob das Tier sich vorwärts. Merle konnte überdeutlich das Scharren seiner steinernen Krallen auf dem Pflaster hören. Junipa hielt sich die Ohren zu. Die Brücke bebte und zitterte unter den Pranken der Raubkatze, und der Hall schien zwischen den hohen Fassaden umherzuhüpfen wie ein Springball. Sogar das stille Wasser geriet in Bewegung. Die Gondel schaukelte leicht.
    Der Gondoliere wartete, bis der Soldat im Gewirr der Gassen verschwunden war, dann spuckte er ins Wasser und murmelte: »Hol dich der Uralte Verräter!« Merle schaute sich zu ihm um, doch der Mann blickte mit starrer Miene über sie hinweg den Kanal entlang. Langsam ließ er die Gondel weitergleiten.
    »Weißt du, wie weit es noch ist?«, erkundigte sich Junipa bei Merle.
    Der Gondoliere kam ihr zuvor. »Wir sind gleich da. Da vorne, hinter der Ecke.« Dann wurde ihm bewusst, dass »da vorne« kein Hinweis war, mit dem das blinde Mädchen etwas anfangen konnte. Deshalb fügte er rasch hinzu: »Nur noch ein paar Minuten, dann sind wir am Kanal der Ausgestoßenen.«
    Enge und Düsternis - das waren die beiden Dinge, die sich Merle am stärksten einprägten.
    Der Kanal der Ausgestoßenen war von hohen Häusern flankiert, eines so finster wie das andere. Fast alle waren verlassen. Die Fensteröffnungen klafften leer und schwarz in den grauen Fassaden, viele Scheiben waren zersplittert, und die hölzernen Läden hingen schief in ihren Angeln wie Flügel an den Gerippen toter Vögel. Aus einer aufgebrochenen Tür drang das Kreischen kämpfender Kater, nichts Ungewöhnliches in einer Stadt der zigtausend streunenden Katzen. Tauben gurrten auf den Fensterbänken, und die schmalen, geländerlosen Wege zu beiden Seiten des Wassers waren mit Moos und Vogelkot bedeckt.
    Einzig zwei bewohnte Häuser hoben sich deutlich von den Reihen verfallener Gemäuer ab. Sie lagen einander genau gegenüber und starrten sich über den Kanal hinweg an wie zwei Schachspieler, mit zerfurchtem Gesicht und gerunzelter Stirn. Rund hundert Meter trennten sie von der Mündung des Kanals und seinem schattigen Sackgassenende. Jedes der Häuser besaß einen Balkon, von denen der linke aus Stein, der rechte aus verschlungenen Metallornamenten gefertigt war. Die Balustraden hoch über dem Wasser berührten sich fast.
    Der Kanal maß eine Breite von drei Schritten. Das Wasser, eben noch
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