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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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zerstören, Verlass ist: Er küsst Miss Acacia. Nein! Diesmal werde ich nicht klein beigeben! Diesmal ist er der Favorit und ich der Außenseiter!
    Miss Acacia zieht an Joes Zigarette. Die Vertrautheit dieser Geste schmerzt sogar noch mehr als der Kuss. Die beiden stehen nur wenige Meter von mir entfernt, ich halte den Atem an.
    Joe küsst sie erneut, allerdings so beiläufig, wie man den Abwasch macht. Wie kann er ein solches Mädchen nur so küssen? Ich sage nichts. Gib sie mir zurück, Joe! Du wirst sehen, diesmal gewinne ich sie mit Leib und Seele und mit ganzem Herzen – egal, aus welchem Material es ist! Ich bin aufgewühlt, aber ich vergrabe alle Gefühle tief in mir.
    Ihre Funken sprühende Stimme brennt mir in den Augen wie Erdbeertränengas. Wird sie mich wiedererkennen?
    Werde ich diesmal den Mut aufbringen, ihr die Wahrheit zu sagen? Und sollte es schiefgehen, werde ich den Mut aufbringen, die Wahrheit vor ihr zu verbergen?
    Joe verschwindet in der Geisterbahn. Miss Acacia rauscht an mir vorbei wie ein Miniaturhurrikan. Ihr Duft ist mir so vertraut wie ein altes Spielzeug aus Kindertagen. Darüber hätte ich fast vergessen, dass sie jetzt die Geliebte meines Erzfeindes ist.
    »Hallo!«, grüßt sie im Vorbeigehen.
    Sie erkennt mich nicht. Bleischwere Schneeflocken senken sich auf meine Schultern. An ihrem linken Knie prangt ein blauer Fleck.
    Ich spreche sie an, ohne zu wissen, worauf ich hinauswill.
    »Sie tragen immer noch keine Brille?«
    »Richtig, aber ich mag es nicht besonders, wenn man mich damit aufzieht«, sagt sie und lächelt freundlich.
    »Ich weiß …«
    »Woher?«
    ›Ich weiß, wir haben uns wegen Joe und wegen meiner unnötigen Eifersucht gestritten, ich weiß, ich habe mein Herz ruiniert, weil ich dich völlig verquer geliebt habe, aber diesmal will ich es besser machen, denn ich liebe dich über alles.‹ Das sollte ich sagen. Die Worte formen sich in meinem Hirn, bewegen sich in Richtung Zunge, kommen mir aber nicht über die Lippen. Stattdessen beginne ich zu husten.
    »Was machen Sie eigentlich im Schlafanzug auf der Straße? Sind Sie aus dem Krankenhaus abgehauen?«
    Sie spricht in einfühlsamem Ton, als wäre ich ein alter Mann.
    »Nein, ich bin nicht abgehauen, ich bin geheilt … Ich war sehr lange krank.«
    »Dann brauchen Sie wohl als Erstes neue Kleider!«
    Wir lächeln uns an, es ist wie früher. Für einen Moment glaube ich, dass sie mich erkannt hat, zumindest hoffe ich es insgeheim. Wir verabschieden uns, und ich kehre zu Méliès’ Werkstatt zurück, verquere Hoffnung im Herzen.
    »Du musst ihr sagen, wer du bist! Und zwar so schnell wie möglich!«, beharrt die Krankenschwester.
    »Ich will warten, bis ich mich wieder an sie gewöhnt habe.«
    »Lass dir nicht zu viel Zeit. Du hast Miss Acacia schon einmal verloren, weil du nicht ehrlich zu ihr warst! Warte nicht, bis sie den Kopf an deine Brust legt und merkt, dass dort noch immer eine Uhr tickt. Und wo wir gerade dabei sind … Soll ich dich nicht ein für alle Mal von ihr befreien?«
    »Schon, aber nicht sofort. Ich will warten, bis es mir besser geht.«
    »Dir geht es schon viel besser. Soll ich dir nicht wenigstens die Haare schneiden und dich rasieren? Du siehst aus wie ein Neandertaler.«
    »Nein danke, noch nicht. Aber hätten Sie vielleicht einen alten Anzug von Méliès für mich?«
    Jeden Tag lungere ich unweit der Geisterbahn herum, um Miss Acacia scheinbar zufällig zu begegnen. Unser Umgang wird freundschaftlicher und ist bald fast so vertraut wie früher. Wenn ich sie anlächle, kommt es vor, dass mir Tränen in die Augen schießen. Manchmal ist unser Schweigen so innig, dass ich glaube, sie weiß Bescheid und sagt nur nichts. Andererseits wäre das nicht ihre Art.
    Ich achte darauf, Miss Acacia nicht zu bedrängen. Ich habe meine Lektion in Sachen Liebe gelernt. Meine alten Reflexe diktieren mir immer noch, blind draufloszustürmen, aber der Schmerz in meinen Knochen verlangsamt meine Bewegungen und bremst mich aus.
    Ich merke sehr wohl, dass ich die Wahrheit schon wieder zurückhalte, aber ich bin so glücklich, im Schutz meiner neuen Identität ein paar Krümel ihrer Nähe aufzupicken, dass sich mir bei dem Gedanken, damit aufzuhören, der Magen zusammenzieht.
    So geht es nun schon seit zwei Monaten, und Joe scheint nichts zu bemerken. Mittlerweile sind mir auch Méliès’ Schuhe zu klein. In seinem Anzug habe ich längst Hochwasser. Ich sehe aus wie ein Muschelfischer, der sich als Magier verkleidet
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