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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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fürchtete, damals, als ich das rosarote Liebeskarussell bestieg, ohne mich anzuschnallen. Jetzt bin ich erwachsener und vernünftiger. Ich wage den großen Sprung nicht mehr, den Sprung in die Arme des Mädchens, bei dem ich immer das Gefühl haben werde, zehn Jahre alt zu sein. Mein neues Herz wird mich nie mehr so träumen lassen, mein Blut nie mehr so zum Sieden bringen wie das alte. Das alte ist mein echtes Herz, und ich Idiot habe es aufgegeben. Zu was für einem Menschen bin ich geworden? Einem, der sich selbst etwas vormacht? Einem Schatten meiner selbst?
    Ich hole den Karton vom Regal, nehme die Uhr vorsichtig heraus und lege sie aufs Bett. Staub wirbelt auf. Ich fasse ins Uhrwerk. Sofort ist der Schmerz wieder da, besser gesagt die Erinnerung an den Schmerz, aber gleich darauf überkommt mich ein seltsam tröstliches Gefühl.
    Nach ein paar Sekunden beginnt die Uhr zaghaft zu ticken, wie ein Gerippe, das erst wieder laufen lernen muss. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl katapultiert mich von meinem Edinburgher Berg in Miss Acacias warme Arme. Dann bleibt die Uhr stehen. Ich repariere die Zeiger mehr schlecht als recht, indem ich die abgebrochenen Enden an die Stümpfe klebe.
    Die ganze Nacht versuche ich vergeblich, mein altes Holzherz zu flicken. Leider bin ich ein erbärmlicher Bastler. Im Morgengrauen fasse ich einen Entschluss: Ich werde zu Miss Acacia gehen und ihr die Wahrheit sagen. Meine alte Uhr habe ich zurück in den Karton gelegt. Ich will sie derjenigen schenken, die inzwischen eine große Sängerin geworden ist. Dieses Mal werde ich ihr nicht nur den Schlüssel überreichen, sondern gleich das ganze Herz – in der Hoffnung, dass sie bereit ist für eine zweite Runde auf dem rosaroten Karussell.
    Ich schleiche die Hauptstraße des Extraordinariums entlang wie ein zum Tode Verurteilter. Joe kommt mir entgegen. Unsere Blicke begegnen sich in Zeitlupe, wie bei einem Westernduell.
    Ich habe keine Angst mehr. Zum ersten Mal versetze ich mich in ihn hinein. Jetzt bin ich in der Rolle desjenigen, der Miss Acacia zurückerobern kann, so wie er damals, als er in der Geisterbahn auftauchte. Ich denke an den Hass, der ihn in der Schule zerfressen haben muss, als ich wieder und wieder von Miss Acacia sprach, während er tausend Tode starb, weil sie fort war. Manchmal habe ich fast das Gefühl, dem guten alten Joe zu ähneln. Ich sehe ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist.
    Brigitte die Schreckliche tritt aus der Geisterbahn. Beim Anblick ihres Haars, das aussieht wie die Borsten des Besens, den sie in der Hand hält, mache ich auf der Stelle kehrt. Die verdorrte Hexe dünstet Einsamkeit aus. Sie wirkt genauso unglücklich wie die alten Schädel, die sie unermüdlich anschleppt, um ihr leeres Haus zu dekorieren. Jetzt, wo sie mich nicht wiedererkennt, hätte ich ein paar nette Worte mit ihr wechseln können. Doch allein die Vorstellung, ihr unfreundliches Gekrächze zu hören, macht mich krank.
    »Ich muss dir was sagen!«
    »Ich auch!«
    Miss Acacia und ihre einzigartige Gabe, meine Pläne zu durchkreuzen.
    »Wir sollten aufhören, uns zu … Oh, du hast ein Geschenk für mich? Was ist in dem Karton?«
    »Ein kaputtes Herz. Genauer gesagt, mein Herz …«
    »Für jemanden, der angeblich nicht vorhat, mit mir zu flirten, bist du ganz schön hartnäckig.«
    »Vergiss den Schwindler, der gestern vor dir stand. Ich will dir die Wahrheit sagen.«
    »Die Wahrheit ist, dass du ununterbrochen mit mir flirtest, mit deinem zerzausten Haar und dem altmodischen Anzug. Aber ich muss gestehen, dass es mir … nicht unangenehm ist.«
    Ich berühre ihre Grübchen, sie haben nichts von ihrem zarten Schimmer verloren. Wortlos hauche ich ihr einen Kuss auf die Lippen. Ihr Mund ist so weich, dass ich für einen Moment all meine guten Absichten vergesse. Habe ich da ein Klicken aus dem Karton gehört? Der Kuss hinterlässt den Geschmack von rotem Chili auf meiner Zunge. Ein zweiter Kuss folgt sofort. Er ist wilder, inniger, von der Sorte, die elektrisierende Erinnerungen mit einem Schlag zurückholen und mit ihnen all die tief vergrabenen Schätze.
    ›Lügner! Betrüger!‹, zischt meine rechte Gehirnhälfte.
    ›Lass uns später reden!‹, antwortet mein Körper.
    Von allen Seiten zieht und zerrt es an meinem Herzen. Geräuschlos schlägt es mir bis zum Hals. Endlich wieder ihre Haut zu spüren, berauscht mich und betäubt das schreckliche Gefühl, mich selbst zu betrügen. Glück und Schmerz bilden eine
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