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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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hast!«
    Madeleine sagt, ich sähe aus wie ein blasser Vogel mit großen Füßen. Meine Mutter antwortet, sie schaue nicht grundlos weg und könne auf die Beschreibung gut verzichten.
    »Ich will ihn nicht sehen und nichts über ihn wissen!«
    Plötzlich wirkt die Hebamme beunruhigt. Sie tastet meinen zarten Oberkörper ab. Ihr Lächeln erlischt.
    »Sein Herz ist hart. Ich fürchte, es ist gefroren.«
    »Glauben Sie etwa, meins nicht?«
    »Nein, sein Herz ist wirklich gefroren!«
    Doktor Madeleine schüttelt mich kräftig, was sich anhört, als wühle jemand in einer Werkzeugkiste.
    Sie kramt auf ihrer Werkbank herum. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und wartet. Sie zittert, aber es liegt nicht an der Kälte. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe, die einem Spielzeugladen entflohen ist.
    Draußen schneit es immer stärker. Silberner Efeu rankt bis unter die Dächer, und vor den Fenstern blühen Eisrosen. Katzen frieren mit den Pfoten an Regenrinnen fest und werden zu Wasserspeiern. Im Fluss ziehen gefrorene Fische Fratzen. Die ganze Stadt ist fest in der Hand eines Glasbläsers, der klirrende Kälte aushaucht.
    Binnen Sekunden sind die wenigen Passanten, die sich todesmutig vor die Tür gewagt haben, zu Eissäulen erstarrt, als hätte ein Gott ein Foto von ihnen gemacht. Manche, die beim Gehen zu viel Schwung hatten, gleiten noch ein Stück weiter – wie Balletttänzer bei ihrem letzten Auftritt. Sie sind beinahe schön: Engel aus Eis, deren Schals in den Himmel ragen, steife Tänzerinnen einer Spieluhr, die sich immer langsamer dreht. Überall in der Stadt spießen sich Passanten – manche erfroren, manche kurz davor – an den Eisdornen der Springbrunnen auf.
    Allein die Turmuhren lassen das Herz der Stadt weiterschlagen, als wäre nichts geschehen.
    ›Dabei haben mich alle davor gewarnt, hierherzukommen. Sie haben mir gesagt, dass die Alte verrückt ist‹, denkt meine Mutter.
    Die Arme sieht aus, als würde die Kälte sie jeden Moment umbringen. Selbst wenn es Doktor Madeleine gelingt, mein gefrorenes Herz zu reparieren – das meiner Mutter ist ein hoffnungsloser Fall. Ich liege nackt auf der Werkbank, den Oberkörper in einen Schraubstock eingespannt, und warte. Mir ist bitterkalt.
    Eine alte schwarze Katze sitzt nebenan auf dem Küchentisch. Doktor Madeleine hat ihr eine Brille gebastelt: sehr elegant, mit grünem Gestell, passend zur Augenfarbe. Die Katze beobachtet uns mit blasierter Miene – fehlen nur noch Zigarre und Zeitung.
    Doktor Madeleine durchstöbert ein Regal mit mechanischen Uhren. Sie nimmt verschiedene Modelle zur Hand: eckige mit harten Konturen, rundliche mit Holzgehäuse und protzige aus glänzendem Metall. Mit einem Ohr lauscht sie dem schwachen Schlag meines defekten Herzens, mit dem anderen dem Ticken der Uhren. Immer wieder runzelt sie die Stirn. Sie benimmt sich wie ein altes Mütterchen, das eine halbe Ewigkeit braucht, um auf dem Markt eine Tomate auszusuchen. Plötzlich hellt sich ihre Miene auf.
    »Natürlich! Diese hier!«, ruft sie und streicht zärtlich über eine alte Kuckucksuhr.
    Die Uhr misst etwa vier mal acht Zentimeter, und bis auf Zahnräder, Zeiger und Zifferblatt ist sie ganz aus Holz.
    »Etwas Solides«, denkt Doktor Madeleine laut.
    Der winzige Kuckuck ist nicht größer als die Kuppe meines kleinen Fingers. Er hat ein feuerrotes Federkleid und tiefschwarze Augen. Mit seinem ewig aufgesperrten Schnabel wirkt er wie tot.
    »Diese Uhr wird ein gutes Herz abgeben! Außerdem passt sie zu deinem Vogelköpfchen«, sagt Madeleine zu mir.
    Die Sache mit dem Vogel schmeckt mir nicht. Aber da Madeleine versucht, mir das Leben zu retten, will ich mal nicht so sein.
    Sie streift eine weiße Schürze über: Jetzt geht’s ans Tranchieren. Ich fühle mich wie ein Brathähnchen, das man vergessen hat zu töten. Madeleine kramt in einer Salatschüssel, setzt eine Schweißerbrille auf und bindet sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, das ihr Lächeln verbirgt. Sie beugt sich über mich und lässt mich Äther einatmen. Meine Lider senken sich langsam, wie Rollos an einem lauen Sommerabend in einem fernen Land. Kurz bevor mich der Schlaf übermannt, werfe ich einen letzten Blick auf Doktor Madeleine. Alles an ihr ist rund, die Augen, die runzeligen Apfelbäckchen, sogar die Brüste. Eine seltsame Maschine, zusammengesetzt aus großen und kleinen Kugeln. Wenn ich nach der Operation keinen Hunger haben sollte, werde ich trotzdem so tun als ob, nur um an ihren Kugelbrüsten nuckeln zu
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