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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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verschlossen.
    Hitze durchströmt meinen Körper. Die kleine Sängerin schüchtert mich ein, aber ich brenne darauf, zu ihr zu rennen. Der Geruch nach Zuckerwatte und Staub trocknet mir die Kehle aus. Ich weiß nicht, was dieses rosarote Karussell zum Rotieren bringt, aber ich muss mitfahren. Ich muss zu ihr.
    Plötzlich beginne auch ich zu singen, wie in einem Musical. Doktor Madeleine wirft mir einen Finger-weg-vom-Herd-Blick zu.
    O du, mein kleines Flammenmeer!
    Schon jetzt begehr ich dich so sehr!
    Ich will dein Kleid vom Leib dir reißen,
    Mich ganz und gar darin verbeißen
    Und zu Konfetti es zerfetzen,
    Am bunten Regen mich ergötzen …
    Habe ich da wirklich gerade »Konfetti« gesungen? Madeleines wütend-besorgter Blick brüllt mich an.
    In mir beginnt die Welt zu flirrn!
    Verlier mich lodernd in der Ferne,
    Seh nicht die Sonne, nicht die Sterne,
    Die ganze Welt beginnt zu flirrn …
    Ich lasse dich nicht mehr allein,
    Ja, deine Brille will ich sein,
    Du wirst wie Zunder mich entflammen,
    Für immer bleiben wir zusammen.
    Ich muss dir aber noch gestehn:
    Ich kann dich gar nicht richtig sehn,
    Ich würde dich nicht mal erkennen
    Unter den vielen andren Männern.
    Wenn wir einander tief berühren
    Und unsre Knochen schier verglühn
    und unsere Körper Funken sprühn,
    Schlägt pünktlich nachts zur Geisterstunde
    Die Uhr in meines Herzens Wunde,
    Augen brauchst du dafür keine,
    Ich lasse dich nicht mehr alleine.
    Komm, lass uns mit dem Feuer spielen!
    Wenn die Musik dann mal erlischt,
    Öffne ich meine Augen nicht,
    Wie Zunder brenn ich innerlich,
    Die Lider glühen feuerrot,
    Die Brille brennt längst lichterloh,
    Ich öffne meine Augen nicht!
    In dem Moment, als unsere Stimmen miteinander verschmelzen, bleibt der Absatz ihres linken Stöckelschuhs im Kopfsteinpflaster stecken. Sie taumelt wie ein auslaufender Kreisel und fällt dann bäuchlings auf das vereiste Pflaster. Ihr Sturz hat etwas Slapstickhaftes. Doch selbst am Boden liegend und mit verrenkten Gliedern ist sie entzückend. Sie sieht aus wie ein abgestürztes Vögelchen, dem Blut über das Federkleid rinnt. Die kleine Sängerin tastet nach ihrer Brille und setzt sie sich ungelenk auf die Nase. Die Bügel sind völlig verbogen. Sie steht auf, stößt gegen die Drehorgel und tappt umher wie eine betrunkene Schlafwandlerin, bis ihre Mutter sie bei der Hand nimmt, fester, als Eltern es für gewöhnlich tun. Man könnte meinen, sie fange die kleine Sängerin wieder ein.
    Ich versuche etwas zu sagen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Mir ist völlig unbegreiflich, wie diese wunderschönen großen Augen so schlecht funktionieren können.
    Doktor Madeleine und die Mutter wechseln ein paar Worte, wie Hundebesitzer, denen es mit knapper Not gelungen ist, ihre ineinander verbissenen Lieblinge zu trennen.
    Mein Herz schlägt jetzt immer schneller, ich bekomme kaum noch Luft. Mir ist, als schwelle meine Uhr an und wandere hoch in den Hals. Ist die kleine Sängerin eben erst geschlüpft? Ist sie aus Zucker? Kann man sie essen? Was ist hier eigentlich los?
    Ich versuche ihr in die Augen zu sehen, aber ihr sinnlicher Mund hat meinen Blick gekidnappt. Mir war bisher nicht klar, wie viel Zeit man darauf verwenden kann, einen Mund anzustarren.
    Plötzlich beginnt meine Uhr laut zu schlagen und mein Kuckuck wie wild zu rufen, schlimmer als bei meinen stärksten Hustenanfällen. Meine Zahnräder drehen sich immer schneller, so als hätte ich einen Hubschrauber verschluckt. Der Lärm zerreißt mir fast das Trommelfell, und ich halte mir die Ohren zu, was alles nur noch schlimmer macht. Meine Zeiger drohen mir den Hals aufzuschlitzen. Doktor Madeleine dreht sich erschrocken zu mir um und macht beschwichtigende Gesten, wie eine Vogelhändlerin, die einen panisch im Käfig umherflatternden Kanarienvogel packen will. Ich verglühe und schließe die Augen.
    Ich möchte ein majestätischer Adler sein oder eine coole Silbermöwe, kein gestresster Kanarienvogel mit nervösen Zuckungen. Ich hoffe, dass die kleine Sängerin mich nicht sieht. Das Ticken hallt in meinen Knochen wider, ich reiße die Augen auf und sehe in den strahlend blauen Himmel. Madeleine packt mich mit eisernem Griff am Kragen und stellt mich wieder auf meine zittrigen Kanarienvogelbeinchen. Dann zieht sie mich fort.
    »Wir gehen nach Hause, und zwar sofort! Du hast allen einen Riesenschreck eingejagt! Einen Riesenschreck!«
    Sie klingt zugleich wütend und besorgt. Ich schäme mich in Grund und
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