Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
Vom Netzwerk:
stubenrein.
    Ich liege unterdessen auf dem Sofa und warte gespannt, bis ich an der Reihe bin. Ich bin das kleinste Modell und passe fast noch in einen Schuhkarton. Wenn sich die Möchtegerneltern dann endlich mir zuwenden, setzen sie zunächst ein gerührtes Lächeln auf, das gleich darauf jedoch erstarrt. Und es dauert nie lange, bis sie fragen: »Was tickt denn da so?«
    Dann nimmt mich Doktor Madeleine auf den Schoß, knöpft mein Hemdchen auf und entblößt meine Brust. Die Paare schreien entweder entsetzt auf oder verziehen angewidert das Gesicht und sagen: »Um Gottes willen! Was ist das denn für ein Ding?«
    »Wenn wir die Sache Gott überlassen hätten, säßen wir jetzt nicht hier. Dieses Ding, wie Sie es nennen, ist eine Kuckucksuhr, die das Herz des Kindes am Schlagen hält«, erklärt Madeleine trocken.
    Die jungen Pärchen schauen verlegen drein und verziehen sich zum Tuscheln ins Nebenzimmer, aber das Urteil lautet unweigerlich: »Nein, danke. Haben Sie noch andere Kinder?«
    »Ja, sicher. Folgen Sie mir bitte. Ich habe zwei reizende Mädchen, die an Weihnachten zur Welt gekommen sind«, antwortet Madeleine freundlich.
    Anfangs bin ich noch zu jung, um das alles zu verstehen, aber später verletzt es mich immer mehr, dass die Leute mich für eine Missgeburt halten. Ich verstehe einfach nicht, was an einer stinknormalen Kuckucksuhr so abstoßend ist. Sie ist doch nur aus Holz!
    Nachdem ich heute zum tausendsten Mal bei der Kinderbesichtigung durchgefallen bin, kommt einer von Doktor Madeleines Stammkunden auf mich zu. Der alte Arthur ist ein ehemaliger Polizeibeamter, der es zum obdachlosen Alkoholiker gebracht hat. Alles an ihm ist faltig und zerknittert, vom Mantel bis zu den Augenlidern. Er ist ziemlich groß und wäre noch größer, wenn sein Rücken nicht so krumm wäre. Bisher haben wir noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Komischerweise gefällt mir unsere Art, nicht miteinander zu sprechen. Es hat immer etwas Beruhigendes, wie er durch die Küche hinkt, schief grinst und mir nur kurz zuwinkt.
    Während sich Madeleine nebenan gerade wieder einmal um die gut betuchten Paare kümmert, reckt und streckt sich Arthur neben mir. Seine Wirbelsäule quietscht wie eine Gefängnistür.
    »Keine Sorge, mein Kleiner!«, sagt er plötzlich zu mir. »Im Leben geht alles irgendwann vorbei. Irgendwie rappelt man sich immer wieder auf. Auch wenn es manchmal eine Weile dauert. Ich habe zum Beispiel kurz vor dem kältesten Tag aller Zeiten meine Arbeit verloren, woraufhin mich meine Frau vor die Tür gesetzt hat. Sie wollte unbedingt einen Polizisten zum Mann! Mein Traum war zwar immer gewesen, Musiker zu werden, aber von irgendetwas mussten wir ja die Miete bezahlen. Doch irgendwann wollte die Polizei mich nicht mehr.«
    »Was ist passiert? Warum wollte dich die Polizei nicht mehr?«
    »Ich konnte einfach nicht aus meiner Haut! Die Zeugenaussagen habe ich immer gesungen, statt sie zu lesen, und im Kommissariat habe ich mehr Zeit an den Tasten meines Harmoniums verbracht als an der Schreibmaschine. Außerdem habe ich Whisky getrunken, nicht viel, gerade genug um eine heisere Stimme zu bekommen, aber die Polizei hat einfach keine Ahnung von Musik, weißt du? Irgendwann haben sie mich rausgeschmissen, und ich war so dumm, meiner Frau zu erzählen, warum. Den Rest der Geschichte kennst du. Das wenige Geld, das mir geblieben ist, habe ich für Whisky ausgegeben. Aber das hat mir das Leben gerettet, weißt du?«
    Ich mag es, wie er »weißt du« sagt. Als er weiterspricht und mir erzählt, wie ihm der Whisky das Leben gerettet hat, wird sein Tonfall feierlich.
    »Am 16. April 1874 brach mir die Kälte das Rückgrat, aber der Whisky wärmte mich und rettete mich vor dem Erfrieren. Ich bin der einzige Stadtstreicher, der den kältesten Tag aller Zeiten überlebt hat. Alle anderen sind tot.«
    Er zieht den Mantel aus und fordert mich auf, seinen Rücken anzusehen. Mir ist das zwar etwas peinlich, aber ich möchte ihm den Wunsch auch nicht abschlagen.
    »Um den Bruch zu reparieren, hat Doktor Madeleine mir eine neue Wirbelsäule aus Eisen eingesetzt und die einzelnen Knochen wie ein Musikinstrument gestimmt. Wenn ich mit einem Klöppel gegen die Wirbel schlage, kann ich sogar das ein oder andere Lied spielen. Es klingt wunderbar. Nur leider ist mein Rücken seitdem krumm und schief. Probier mal«, sagt er und zieht einen Klöppel aus der Manteltasche.
    »Aber ich weiß gar nicht, was ich spielen soll.«
    »Warte, ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher