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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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er die Uhr auf Jacks verwildertem Grab ab. Miss Acacia verließ das Extraordinarium im Oktober 1892. An eben jenem Oktobertag verschwand auch die Uhr vom Friedhof San Felipe. Joe arbeitete weiterhin in der Geisterbahn, erholte sich jedoch bis zu seinem Tod nicht vom abermaligen Verlust seiner großen Liebe.
    Miss Acacia wiederum nahm den Namen ihrer Großmutter an und sprühte in allen großen europäischenVarietés Funken. Zehn Jahre später soll sie während eines Parisaufenthalts in einem Kino gesehen worden sein, in dem der Film Die Reise zum Mond von einem gewissen Georges Méliès gezeigt wurde, dem genialen Erfinder und größten Filmpionier aller Zeiten. Miss Acacia und er sollen sich nach der Vorstellung kurz unterhalten haben, und er soll ihr ein Exemplar von Der Mann ohne Tricks geschenkt haben.
    Eine Woche später tauchte die Uhr wieder auf, und zwar vor der Tür eines alten Hauses in Edinburgh, eingewickelt in ein Leinentuch. Es sah aus, als hätte ein Storch sie auf der Schwelle abgelegt.
    Das Herz lag mehrere Stunden auf der Fußmatte, bevor Anna und Luna es fanden – sie hatten das unbewohnte Haus auf dem Arthur’s Seat übernommen und darin ein Waisenhaus eröffnet, das auch alte Kinder wie Arthur aufnahm. Nach Madeleines Tod hatte der Rost Arthurs Wirbelsäule zerfressen, sodass sie bei der geringsten Bewegung erbärmlich quietschte. Seitdem hatte er panische Angst vor Kälte und Regen.
    Die Reise der Uhr endete auf Arthurs Nachttisch, und dort liegt sie auch heute noch neben dem Buch, das zusammen mit der Uhr vor der Tür gelegen hatte.
    Die Krankenschwester Jehanne d’Ancy sah die Uhr nie wieder, aber sie fand doch noch den Weg zu Méliès’ Herz. Die beiden eröffneten in Paris in der Nähe des Bahnhofs Montparnasse einen Laden für Scherzartikel und Attrappen und blieben bis zu ihrem Tod zusammen. Die Wunderwerke des großen Méliès gerieten bald in Vergessenheit, aber Jehanne lauschte auch Jahre später noch verzückt seinen Geschichten vom Mann mit dem Uhrenherz und anderen Ungeheuern aus dem Schattenreich.
    Unser »Held« hörte nicht mehr auf zu wachsen. Jede Nacht streifte er im Schatten der Schaubuden um das Extraordinarium herum. Er setzte nie wieder einen Fuß hinein und zeigte sich nie bei Tageslicht. Er war ein riesiges Gespenst geworden. Die Trennung von Miss Acacia verkraftete er nie.
    Eines Tages folgte er seinen Spuren zurück nach Edinburgh. Die Stadt hatte sich nicht verändert, die Zeit schien hier stillzustehen. Er ging den Berg hinauf, wie er es als Kind so oft getan hatte, und große, nasse Schneeflocken sanken dabei auf seine Schultern, schwer wie Tränen. Der schneidende Wind leckte den alten Vulkan von Kopf bis Fuß ab, seine eisige Zunge schlitzte den Nebel auf. Es war zwar nicht der kälteste Tag aller Zeiten, aber es fehlte nicht viel. Ganz in der Ferne waren plötzlich gedämpfte Schritte zu hören, und Jack meinte, im Schneegestöber die vagen Umrisse einer vertrauten Gestalt zu erkennen: im Wind loderndes Haar und das Staksen einer schmollenden Puppe mit verrenkten Gliedern.
    ›Ein weiterer Traum, der mit der Wirklichkeit kollidiert‹, dachte er.
    Als er das Haus seiner Kindheit betrat, standen Madeleines Uhren samt und sonders still. Anna und Luna, seine verrückten Tanten, erkannten ihn erst nicht wieder, denn man konnte ihn nun wirklich nicht mehr little Jack nennen. Er musste ihnen erst Oh When the Saints vorsingen, bevor sie ihn in ihre welken Arme schlossen. Luna brachte ihm schonend den Inhalt des Briefes bei, den Arthur vor vielen Jahren an ihn geschrieben hatte, der aber nie angekommen war. Dann beichtete sie ihm, dass alle weiteren Briefe von ihnen gewesen waren. Bevor das Schweigen die Wände zum Explodieren bringen konnte, nahm Anna Jack bei der Hand und führte ihn an Arthurs Bett.
    Der alte Mann enthüllte Jack das Geheimnis seines Lebens: »Ohne Madeleines Uhr hättest du den kältesten Tag aller Zeiten nicht überlebt. Nach einigen Monaten war dein Herz aus Fleisch und Blut jedoch stark genug, um allein zu schlagen. Madeleine hätte die Uhr entfernen können, als sie dir die Fäden zog. Und sie hätte es tun müssen . Aber wegen des tickenden Ungetüms über deinem linken Lungenflügel wollte dich kein Paar adoptieren, und du warst Madeleine ans Herz gewachsen. Sie sah in dir ein kleines, zartes Wesen, das sie um jeden Preis beschützen musste. So wurde die Uhr zur Nabelschnur, die dich mit ihr verband.
    Madeleine hatte schreckliche Angst vor
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