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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco
Autoren: Nicolas Remin
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Zeitung von ausgesuchter Langweiligkeit.
    Er nahm seine Aktentasche vom Nebensitz, löste den  Riemen, mit dem sie verschlossen war, und steckte langsam seine rechte Hand hinein. Wie immer empfand er die Berührung mit dem glatten Ebenholzgriff seiner Waffe als äu ßerst angenehm, in gewisser Weise erregender als die Berührung einer Frau. Die Eisenbahn war langsamer geworden. Sie hatten die Brücke erreicht. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten. Er zog den Revolver aus der Tasche und richtete den Lauf der Waffe ohne Hast zwischen die Augen des Mannes. Dann spannte er den Hahn, betätigte den Abzug – aber alles, was er hörte, war ein trockenes Klicken. Der Revolver hatte eine Ladehemmung.
    Der Mann mit den Wurstfingern reagierte erstaunlich  schnell. Anstatt vor Schreck zu erstarren – was ihm selbst die Gelegenheit gegeben hätte, einen zweiten Schuss abzufeuern –, drehte sich der Bursche nach links und ließ den rechten Fuß nach vorne schnellen. Der Stiefel traf die Revolverhand und schleuderte die Waffe polternd zu Boden.
    Signor Wurstfinger katapultierte sich aus dem Sitz und ließ seine beiden Hände, schnell wie zuschnappende Schildkröten, auf seinen Hals zuschießen. Mit aller Kraft presste er seine Kehle zusammen. Der Schmerz war kaum zu ertragen, und einen Moment lang verschwamm die Welt vor seinen Augen. Er warf sich zur Seite und schlug hart mit dem Kopf gegen die Scheibe. Trotzdem gelang es ihm, Zeige-und Mittelfinger in die Augen des Mannes zu stoßen. Signor Wurstfinger schrie auf und lockerte unwillkürlich seinen Griff, was ihm die Gelegenheit bot, seine linke Faust von unten auf das Kinn des Gegners zu stoßen und seinen Kopf in den Nacken zu schleudern. Ein zweiter Faustschlag, diesmal der stärkeren rechten Faust, landete auf dem Kinn des Mannes und versetzte ihn in eine seitliche Drehung. Signor Wurstfinger verlor das Gleichgewicht, stürzte zu Boden und schnaufte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
    Er warf sich rittlings auf seinen Rücken legte den rechten Arm um den Hals des Mannes, während er ihn mit der linken Hand an den Haaren packte und ihm den Kopf nach hinten riss. Ein kurzer, harter Ruck, dann brach das Genick. Es hörte sich an, als würde man am Strand eine Muschel zertreten. Signor Wurstfinger gab einen erstickten Laut von sich, bäumte sich ein letztes Mal auf und sackte dann kraftlos auf den Boden des Abteils. Sein Kopf drehte sich zur Seite, die starren Augen waren auf das Antlitz des Kaisers gerichtet, der das Gefecht mit unbewegter Miene verfolgt hatte.
    Inzwischen mochte der Zug die Hälfte der Brücke überquert haben, es blieben also noch knappe vier Minuten, um den Toten zu durchsuchen und anschließend aus dem Coupé zu werfen. Die Frachtpapiere fand er in der Innentasche des Gehrocks, zusammen mit dem Pass, einem Billett erster Klasse und der Reservierungsbestätigung für ein Hotelzimmer in San Marco. Der Pass war gefälscht, und selbstverständlich hatte der Mann nicht die Absicht gehabt, das Hotel aufzusuchen. Das Billett erster Klasse steckte er in die Innentasche des Gehrocks zurück: eine erste Spur für die venezianische Polizei.
    Er packte den Mann unter den Achseln und lehnte ihn  mit dem Rücken, so aufrecht er konnte, an die Tür des Abteils. Dann öffnete er die Tür und sah, wie der Oberkörper des Mannes rückwärts in die Dunkelheit kippte. Er bil dete sich ein, das klatschende Geräusch zu hören, mit dem die Leiche auf die Wasseroberfläche aufschlug. Der Regen prasselte immer noch lautstark auf das Dach des Abteils.
    Dass jemand bei solch einem Wetter den Kopf aus dem  Fenster gesteckt hatte, war auszuschließen. Falls doch, war es mit Sicherheit zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können. Er setzte sich wieder hin und legte das Giornale di Verona auf den Nebensitz.
    Der Zug verringerte seine Geschwindigkeit auf Schritttempo, jetzt konnte er auf der rechten Seite des Abteils ein paar Gaslaternen erkennen. Dann tauchte der Bahnsteig auf, Gepäckträger in dunkelblauen Uniformen warteten auf dem Perron, hinter ihnen das Schild – falls es Reisende gab, die sich darüber im Zweifel befanden –, auf dem stand: Venezia, Santa Lucia.
    Ein paar Minuten später stieg ein etwas mitgenommen  aussehender Herr mittleren Alters aus einem Coupé erster Klasse. Er trug eine schwarze Armbinde um den linken Ärmel seines altmodischen Überziehers, hielt in der rechten Hand das Giornale di Verona und sah sich unsicher um. Offensichtlich hatte ihn
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