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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus
Autoren: Ralf Isau
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zuvor hatte er so furchtbare Schmerzen und solche Seelenpein empfunden. Ihm wurde schwarz vor Augen. Alles um ihn herum drehte sich. Anstatt jedoch die Besinnung zu verlieren, klarte sein Blick rasch wieder auf. Aus der Dunkelheit schossen tanzende Sterne. Seine Beine fühlten sich wie Fremdkörper an, die ihm weder gehörten noch gehorchten. Sie drohten ihm einzuknicken.
    Und dann sah er in sein eigenes Gesicht.
    Anfangs war es zu verschwommen, um den verwirrenden Anblick als real zu empfinden. Er meinte, jemand halte ihm einen Spiegel vor. Die strahlenden blauen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen, die gerade schmale Nase, das rabenschwarze lockige Haar – das alles war eindeutig er . Auch das ohne Halstuch getragene weite, helle Leinenhemd, die sandfarbenen Kniebundhosen, die einigermaßen weißen Strümpfe aus Baumwollgarn und die braunen Seiltänzerschuhe mit den weichen Sohlen stimmten. Mittlerweile sah Arian wieder genug, um den Irrtum zu erkennen. Der Doppelgänger war kein Spiegelbild. Er war echt.
    Aber… wer bin dann ich?
    Sein Gegenüber sah ihn an, als stellte es sich gerade dieselbe Frage. In den blauen Augen des falschen Gauklers flackerte nicht die Spur von Panik, es war eher ein Ausdruck überraschten Verstehens. Er presste die Lippen zusammen, als empfinde er Verärgerung über einen missglückten Streich.
    Hektisch riss sich Arian von seinem Ebenbild los und starrte schockiert seine Hände an. Oben waren sie behaart und mit einem Netz dicker, bläulicher Adern überzogen. Ich bin er und er ist ich!, schoss es ihm durch den Kopf . Das war so verwirrend, so unglaublich, so … widernatürlich.
    Ihm brach der Schweiß aus, kalt und stinkend. Das Schwindelgefühl wurde wieder heftiger. Irgendwie hatte ihm Mister M. den Körper gestohlen, und damit doch auch sein Wesen – mit einem halben Ich ist man keine ganze Seele mehr. Ja, dieser Unhold war ein Seelendieb! Was für ein Albtraum! Arian fühlte sich um sein Leben betrogen. Im welken Leib eines alten Mannes stand er mit einem Fuß schon so gut wie im Grab. Er öffnete den Mund, um sein Entsetzen herauszuschreien …
    In diesem Augenblick griffen kräftige Hände wie Schmiedezangen nach seinen Oberarmen. »Keinen Mucks oder ich schlitze dich auf!«, zischte ihm jemand ins Ohr. Der Atem des Todes wehte ihm in die Nase.

Arian soll an einem heiligen Ort für die Sünden eines Fremden büßen
und ohne Beichte in die Hölle fahren.
      
       
        
    London, 7. Juni 1793
        
    Der Verwesungsgestank war nur Mundgeruch, allerdings von der übelsten Sorte. Arian spürte ein Stechen in der linken Seite und sah erschrocken an sich herab.
    Der kleinere Kerl drückte ihm grinsend ein gewaltiges Messer in den Leib. Die im Sonnenlicht schimmernde Klinge sah schäbig, aber scharf aus. So als würde sie regelmäßig über einen Wetzstein gezogen.
    »Was wollen Sie …? Au! « Arian biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien, als die Messerklinge in seine Haut eindrang. Tränen schossen ihm in die Augen.
    »Ich würde tun, was Slit sagt«, brummte der Hüne zu seiner Rechten mit walisischem Akzent. Er war größer als Philip Astley – maß also deutlich mehr als sechs Fuß – und hatte eine kräftigere Statur als der Flämische Herkules. Sicher hätte es ihm wenig Mühe bereitet, einen Tanzbären in zwei Stücke zu reißen. Arian fügte sich vorerst stumm in die Rolle des wehrlosen Greises. Vielleicht konnte er den beiden doch noch entwischen.
    Grob zerrten ihn die Muskelprotze weg von dem Seil und seinem Körper. Anstatt um Hilfe zu rufen, lächelte ihn sein eigenes Gesicht aus dem Schatten des Ahornbaumes nur hinterhältig an. Vermutlich hätte ohnehin niemand gewagt, gegen diesen Slit und seinen Kumpan aufzubegehren – so weit ging die Sensationslust der Leute nun auch wieder nicht. Die Menschenmenge verlief sich in den Zugängen von Dean’s Yard, so wie einem Wasser zwischen den Fingern zerrinnt. Einige Passanten schauten bewusst weg. Vielleicht dachten sie, der Himmel strafe zu Recht einen verknöcherten Rüpel für sein ungehöriges Benehmen.
    »Na siehst du, geht doch!«, sagte Slit gut gelaunt. Man hätte meinen können, er freue sich über das Wiedersehen mit einem alten Freund, den er am liebsten gar nicht mehr loslassen wollte. Der Dicke stank nach Schweiß und sein baumlanger walisischer Kumpan nach Kohlsuppe.
    Während sich Arian unter den mächtigen Zwillingstürmen der Kirche hindurch wie ein Lamm zur Schlachtbank führen
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