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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus
Autoren: Ralf Isau
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zu entzünden. Wie sollten sie auch ahnen, dass die Flammen nur eine Illusion waren?
    »Wo versteckst du das Feuer?«, schrie ein neunmalkluger Dreikäsehoch.
    Arian wandte sich seinem hölzernen Freund zu. »Was meinst du, Eibo?«
    Alle blickten gebannt zu der am Baum lehnenden Puppe.
    »Ein Zauberkünstler verrät doch nicht seine Tricks«, antwortete sie aus halb geöffnetem Mund.
    Der geheimnisvolle Fremde lächelte wissend. Die übrigen Schaulustigen reagierten entzückt, manche auch verschreckt. Eine Puppe, die spricht? Wie ist das möglich? Arian nannte es Telebauchreden. Er verstand selbst weder, wie er seine Stimme an jeden beliebigen Ort in Sichtweite versetzen konnte, noch, wie er Luft scheinbar in Feuer verwandelte oder andere seltsame Illusionen erzeugte. Diese Dinge gehörten zu den unerklärlichen Begabungen, die er im Laufe der Jahre an sich entdeckt hatte.
    Arian kürzte seine Vorstellung ab, um endlich dem stechenden Blick des geheimnisvollen Fremden zu entkommen. Er rief die Anfangszeit der Nachmittagsvorstellungen aus, bedankte sich artig beim Publikum für die Aufmerksamkeit und sprang mit einem Rückwärtssalto vom Seil. Die Zuschauer applaudierten begeistert. Er verbeugte sich tief und lang, insgeheim hoffend, der unheimliche Alte möge nicht mehr da sein, wenn er sich wieder aufrichtete.
    Die Fähigkeit, sich unliebsame Dinge oder Personen wegzuwünschen, gehörte jedoch nicht zu den vielfältigen Talenten des jungen Gauklers. Der Mann stand nach wie vor da, und jetzt, wo die anderen Leute sich entfernten, wirkte seine Gegenwart noch beklemmender als zuvor. Arian wandte sich ab, ging zu Eibo und tat so, als müsse er die Kleider der Puppe ordnen.
    »Das war beeindruckend, Master Pratt«, sagte hinter ihm eine Stimme, die knarrte wie eine schlecht geölte Tür.
    Arian erschauerte. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Er zupfte weiter an Eibos Jacke herum, so als fühle er sich von dem Fremden gar nicht angesprochen. Bestenfalls eine Handvoll Menschen wusste, wie er tatsächlich hieß. Auf den Plakaten des Amphitheaters wurde er immer als »Mike« angekündigt. Auf seiner Adoptionsurkunde stand der Name Michael Astley. Seine Eltern waren kurz nach seiner Geburt im fränkischen Bamberg ermordet worden. Er hatte nur überlebt, weil sie ihn im Wagen eines Puppenspielers versteckten, mit dem er danach viele Jahre kreuz und quer durch Europa gezogen war.
    Von heftigen Gefühlen aufgewühlt, griff Arian verstohlen in den Halsausschnitt seines weißen Leinenhemdes und zog seinen kostbarsten Besitz hervor. Es war die goldene Taschenuhr, die einzige Hinterlassenschaft seiner Eltern. Er öffnete den Deckel, so als wolle er die Zeit ablesen. In Wahrheit betrachtete er das hinten in dem Gehäuse verborgene Miniaturgemälde, ein Porträt seines leiblichen Vaters Tobes Pratt.
    »Hat Ihnen niemand beigebracht, dass ein Mann mehr Respekt verdient als eine Puppe?«, schnarrte der Fremde.
    Arian stöhnte. Warum verschwand dieser Kerl nicht endlich? Er klappte die Taschenuhr wieder zu, ließ sie in seinem Ausschnitt verschwinden. Provozierend langsam drehte er sich zu dem Grauhaarigen um, dessen Hände nach wie vor in den Jackentaschen steckten. »Reden Sie mit mir, Sir?«
    »Sehe ich so aus, als spräche ich mit Bäumen?«
    »Das kann ich nicht sagen, Sir. Ich kenne niemanden, der diese Angewohnheit pflegt. Sie haben mich Patt genannt …«
    »Nein«, korrigierte ihn der Alte. »Ich sagte Pratt. Sie sind doch Arian Pratt, nicht wahr?«
    »Ich bin Mike. Michael Astley, der Sohn von Philip Astley.«
    »Meines Wissens heißt der John.«
    »Der Sergeant Major hat mich adoptiert. John Philip Conway Astley ist sein leiblicher Sohn. Er ist neun Jahre älter als ich und leitet unser Haus in Dublin …«
    »Nachdem das Amphithéâtre Anglais wegen der Revolution schließen musste und er Paris verlassen hat.«
    »Offenbar sind Sie über das Familienunternehmen bestens unterrichtet, Mister … ?«
    »M.«
    »Emm?«
    »M. wie der dreizehnte Buchstabe des Alphabets – ich hoffe, Sie fassen das nicht als schlechtes Omen auf. Ich bin in einer Mission unterwegs, die äußerste Diskretion erfordert. Deshalb möchte ich meinen Namen vorerst für mich behalten, Master Pratt.«
    »Ich heiße Astley. Michael Astley. «
    »Jaja.« Der Grauhaarige lächelte süffisant »Man erzählte mir, Sie hätten momentan im hiesigen Amphitheater das Sagen, weil der gute Philip nach der französischen Kriegserklärung wieder in seine alte
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