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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus
Autoren: Ralf Isau
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die ihren Hinterteilen bisweilen eine groteske Fülle verliehen.
    Understatement – die Kunst sich bescheiden zu geben, ohne es zu sein – war eher ein Merkmal des Bürgertums. Wer sein Vermögen dem eigenen Fleiß verdankte, neigte weniger zu Prunk und Verschwendung. Solche Leute bevorzugten den zurückhaltenden Stil des Landadels: schlichte Wollanzüge in gedeckten Farben bei den Herren und lange Baumwollkleider bei den Damen.
    Unter den Schaulustigen befanden sich überdies etliche Uniformträger. Im Rock des Königs war man immer passend gekleidet, zumal in Zeiten wie diesen – seit Jahresbeginn standen England und Frankreich miteinander im Krieg.
    Von der Westminster School hallte Geschrei herüber. Jungen in Kniebundhosen kamen herbeigelaufen. Die Schüler verbrachten auf Dean’s Yard, den sie das Grün nannten, ihre unterrichtsfreie Zeit, sofern sie nicht andernorts die Gegend unsicher machten. Du musst die Kinder begeistern, dann hast du auch die Eltern gewonnen, pflegte der geschäftstüchtige Sergeant Major zu sagen.
    Arian wollte gerade seine Bekanntmachung verkünden, als die Menschenmenge zu wogen begann, wie eine vom Wind gepeitschte See. Einige Leute äußerten lautstark ihren Unmut, weil sich ein Mann mit versteinerter Miene rücksichtslos nach vorne drängelte. Er mochte weit über sechzig sein, war mittelgroß und schlank, hatte halblanges graues Haar und sehr bewegliche Ellenbogen, die er wie Rammböcke einsetzte. Die Hände behielt er dabei seltsamerweise in den Jackentaschen seines groben, braunen Wollanzugs, der ihm das Aussehen eines schottischen Landlords verlieh.
    Die Empörung der Menschen beschränkte sich auf Proteste. Niemand stellte sich dem Mann in den Weg, noch wagte jemand, ihn festzuhalten. Es schien, als umgebe ihn eine Aura der Unantastbarkeit. Als er es bis in die vorderste Reihe geschafft hatte, fixierten seine blassgrauen Augen das Gesicht des Seiltänzers, so als wolle er ihn hypnotisieren. Irgendetwas an dem Alten beunruhigte Arian. Er musste sich zwingen, ihn nicht unentwegt anzustarren.
    Endlich verebbte die Entrüstung über den Störer und eine gespannte Ruhe kehrte ein. Arian breitete die Arme aus und rief in der Manier eines Marktschreiers: »Besuchen Sie Astley’s Amphitheatre an der Westminster Bridge! Genießen Sie ein paar schöne Stunden mit singenden Clowns und tanzenden Hunden. Erleben Sie den Flämischen Herkules und andere überraschende Attraktionen, die es sonst nirgends auf der Welt gibt. Eine kleine Kostprobe gefällig?«
    Er holte übertrieben tief Luft und spie Feuer wie ein leibhaftiger Drache.
    Durch die Menge ging ein Raunen. Manche hielten erschrocken den Atem an. Einige Frauen stießen spitze Schreie aus. Nur der Grauhaarige in der vordersten Reihe blieb, zumindest äußerlich, völlig unbeeindruckt. Er lächelte lediglich, als kenne er genau das erstaunliche Geheimnis des Feuerspuckers.
    Der fand den Mann dadurch nur noch unheimlicher. Fast verlor er das Gleichgewicht, so sehr lenkte ihn der rätselhafte Fremde ab. Arians Füße schaukelten wild hin und her. »Du liebe Güte, ist das windig heute!«, lenkte er von seiner Unsicherheit ab.
    Die Leute lachten. Abgesehen von dem Alten.
    Arian erlangte die Kontrolle zurück und machte weiter im Text. »Auf vielfachen Wunsch zeigen wir morgen Abend noch einmal das Hippodrama ›Gefecht von La Maddalena oder wie der mutige Bootsmann Domenico Millelire die Franzosen verjagte‹.« Spektakelstücke mit Pferden – die Hippodramen – waren eine Spezialität im Amphitheater des Philip Astley. Arian wechselte in den übermütigen Ton eines Clowns. »Wollt ihr mal sehen, wie Domenico den Froschfressern Feuer unterm Hintern gemacht hat?«
    »Ja!«, riefen Alt und Jung im Chor.
    Nur der geheimnisvolle Alte nicht.
    Arian holte abermals tief Atem und beugte sich auf dem Seil weit zurück. Sein Geist durchmischte sich mit der Luft, wie Tinte in Wasser zerfließt. Zur Hebung der Spannung wartete er noch einen Moment, während er in seinen Gedanken das Bild einer Lohe entfachte. Dann ließ er eine Flammenzunge mindestens zehn Fuß hoch himmelwärts schießen. »So hat er ihrem Anführer, diesem Lieutenant-Colonel Napoleone Buonaparte aus Korsika das Hinterteil versengt.«
    Einige johlten vor Vergnügen. Anderen blieb das Lachen im Halse stecken oder sie stießen Laute des Erstaunens aus. Vermutlich fragten sie sich, wie der Feuerspucker das machte. Er hielt weder Fackel noch Kerze in der Hand, um daran seinen Atem
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