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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus
Autoren: Ralf Isau
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leben, Arian!, war Tobes’ letzter Gedanke. Nur du kannst dem Wahnsinn ein Ende machen. Tu es für deine Mutter und tu es für mich …

Wie ein junger Gaukler sein Publikum verzaubert
und sich plötzlich selbst verliert.
      
      
      
    London, 7. Juni 1793
       
    An den Ufern der Themse lebte Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein junger Gaukler namens Arian Pratt, der zu den rätselhaftesten Menschen seiner Zeit gehörte, obwohl diese mit Rätselhaftem ohnehin reich gesegnet war. Wegen seiner erstaunlichen Fähigkeiten hielten ihn manche für einen Engel. Andere wollten ihn lieber als Sohn des Teufels auf dem Scheiterhaufen brennen sehen, wenngleich diese Unsitte allmählich aus der Mode kam. Sogar er selbst fühlte sich manchmal als Verfluchter. Ungewöhnlicher noch als seine Begabungen waren aber die Ereignisse, die im Sommer 1793 ihren Anfang nahmen und das Leben des damals Siebzehnjährigen gründlich auf den Kopf stellten. Danach war er nicht mehr derselbe und das ist durchaus wörtlich gemeint.
    Es war ein schöner Junitag, noch nicht so heiß, dass einem der Gestank aus den Sickergruben den Atem raubte. Nur wenige Schleierwolken zogen am strahlend blauen Himmel über Westminster entlang. Insekten brummten durch die Luft, schwer beladen mit Blütenstaub. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen. An den entspannten Gesichtern der Leute ließ sich erkennen, wie sehr das schöne Wetter ihre Stimmung hob. Die besten Geschäfte macht man mit guter Laune , pflegte der Sergeant Major zu sagen. Oder mit der Angst. Arian verstand sich gleichermaßen auf beides.
    Sergeant Major Philip Astley war sein Adoptivvater. Der ehemalige Kavallerieoffizier hatte dem Dekan der Westminster Abbey die Erlaubnis zur Benutzung zweier Bäume auf dem umzäunten Rasen von Dean’s Yard abgerungen, damit Arian dort sein Balancierseil aufspannen konnte. Zweifellos wäre es nie dazu gekommen, hätte der oberste Priester der Stiftskirche die unseligen Folgen seiner Einwilligung auch nur erahnt.
    Der idyllische Platz südlich des großen Westportals der Kirche, die im Volksmund einfach die Wabbey hieß, eignete sich vorzüglich für Arians Darbietung. Er wollte für Astley’s Amphitheatre Reklame machen. Die aus einer Reitschule entstandene Spektakelschau war eine der großen Attraktionen Londons. Zum Ensemble gehörten Kunstreiter, Clowns, Jongleure, Seiltänzer und weitere Akrobaten. Als Bühne diente ihnen eine kreisrunde Arena, die Philip den »Ring« nannte. Die darin wirkenden Fliehkräfte gestatteten Reitern den Kopfstand im Sattel und noch atemberaubendere Kunststücke.
    Arian war ein begnadeter Puppenspieler. Bei der Schau trat er mit seinem Freund Eibo auf, einer Puppe in Gestalt eines zwergenwüchsigen Jünglings. Er hatte sie mit vierzehn Jahren aus Eibenholz, Kautschuk und anderen Materialien gebaut. Sobald während der Vorstellung die Theaterbeleuchtung bis auf wenige Öllampen erlosch und er, im hautengen nachtschwarzen Anzug fast unsichtbar, seine Figur zum Leben erweckte, hielt das Publikum den Atem an. Die Puppe schien dann tatsächlich beseelt zu sein. Und wenn er ihr seine Stimme lieh und sie im schnoddrigen Ton eines Dockarbeiters über die großen und kleinen Skandale der Stadt schwadronierte, lachte der ganze Saal.
    An diesem sonnigen Mittag saß Eibo im Gras, barfuß, ein Bein angewinkelt, den Rücken an einen der Ahornstämme gelehnt, die das Seil hielten. Es sah aus, als verfolge er gebannt die Vorstellung. Arian hatte die Puppe, passend zu ihrer grobschlächtigen Rolle, mit einer dunkelblauen Jacke, einer gelben Weste und mit weißen Pantalons ausgestattet, jenen röhrenförmigen, knöchellangen Hosen der einfachen Schiffsleute und Arbeiter.
    »Kommt und staunt!«, rief er. Unter seinen Füßen schaukelte das Balancierseil. Er tat so, als koste es ihn Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das schürte bei den Zuschauern die Hoffnung, ihn im Dreck landen zu sehen – auch Schadenfreude eignete sich zur Hebung der Laune. Immer mehr Passanten blieben stehen. Aus den Augenwinkeln taxierte er sein Publikum.
    Er hatte inzwischen einen recht sicheren Blick dafür, wer von Adel war oder wer sich dem aufstrebenden Bürgertum zurechnete. Die blaublütigen Lords und Ladys nutzten jede Gelegenheit, ihren ererbten Reichtum spazieren zu führen. Sie hüllten sich gerne in Samt, Brokat und Seide. Frauen schützten ihre schneeweiße Haut mit ausladenden Hüten oder Sonnenschirmen und trugen Kleider mit gepolsterten Hüftringen,
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