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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus
Autoren: Ralf Isau
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legte wieder schützend seinen Arm um sie und atmete erleichtert auf. Er war erst fünfundzwanzig und liebte seine Frau über alles. Trotzdem waren ihre Gefühlsschwankungen für ihn manchmal wie ein Buch mit sieben Siegeln.
    Die Stille zwischen den Fachwerkhäusern war geradezu unheimlich. Der Schnee dämpfte sämtliche Geräusche, selbst den Lärm von der Inselstadt. Wenig später erreichten sie das Schlenkerla in der Dominikanerstraße 6. Im Hof des Gasthauses fanden sie den gesuchten Reisewagen, ein blaues Holzhaus auf vier Rädern mit Runddach und aufgemalten Puppengesichtern, einige lachend, andere weinend. Kord war nirgends zu sehen.
    »Er wird ein Gästezimmer genommen haben«, sagte Salome.
    »Unwahrscheinlich«, wunderte sich Tobes.
    »Ich lasse mein Kind nicht allein …« Ein furchterregendes Brüllen ließ sie erschrocken innehalten.
    »Der Löwe hat den Fluss überquert«, raunte Tobes. »Wir müssen ihn von dem Jungen fortlocken. Leg ihn in den Wagen.«
    »Aber…«
    »Bitte, Salome! Sie wissen wahrscheinlich nichts von seiner Geburt. Hier ist er sicher. Ich hinterlasse Kord eine Nachricht.«
    Ihr Widerstand erlahmte. Gestützt auf seine Hand stieg sie in die Kutsche.
    Während Salome dem Kind ein warmes Lager aus Kissen und Decken bereitete, suchte Tobes zwischen Marionetten und Kulissen nach Schreibzeug. Bald hatte er einen Bleistift und Papier gefunden und kritzelte eine kurze Mitteilung auf das Blatt.
    Lieber Kord!
    Gildemeister Zoltán trachtet unserem Sohn Arian nach dem Leben. Salome und ich lassen ihn in Deinem Wagen zurück und hoffen, euch bald wohlbehalten wiederzusehen. Sollte uns etwas zustoßen, bring ihn bitte nach Paris zu Baladur du Lys. Seine Frau Marie hat selbst gerade ein Töchterchen geboren, die kleine Mira. Ich weiß, unsere Freunde würden sich um Arian kümmern, als wäre es ihr eigener Sohn. Für etwaige Ausgaben lege ich Dir meine goldene Taschenuhr bei. Im hinteren Deckel findest Du ein Bild von mir, damit unser Schatz seinen Vater nie vergisst. Adieu.
    Tobes Pratt
    Während er das Blatt um die Uhr herum faltete, stopfte sich Salome ein Kissen unter den Mantel. Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, lächelte sie grimmig. »Der Scherge wird eine hochschwangere Frau sehen. Dann kommt er gar nicht erst auf die Idee, nach Arian zu suchen.«
    In ihren funkelnden braunen Augen sah Tobes, dass sie sich in das Unvermeidbare gefügt hatte. Ihr Mut rührte ihn. Er drückte sie an sich und küsste sie. »Ich werde alles tun, um euch zu beschützen.«
    Erneut hallte das Löwengebrüll durch das Viertel.
    Rasch verbarg er Uhr und Brief in den Tüchern, die das schlafende Kind wärmten, und streichelte sanft dessen rosiges Gesichtchen. Tobes’ Wangen waren feucht von Tränen.
    Salome legte ihre Hand auf seinen Arm. »Wir müssen gehen, Schatz.«
    Beide küssten zum Abschied ihren Sohn, dann liefen sie wieder auf die Dominikanerstraße hinaus. Es schneite unvermindert heftig. Abermals hallte das Brüllen des Löwen herüber, diesmal aus größerer Nähe.
    »Wohin?«, fragte Salome.
    »Zur Residenz«, antwortete er. »Vielleicht können wir ihn vor die Flinten der bischöflichen Wache locken.«
    Hand in Hand eilten sie den Katzenberg zum Dom hinauf. Zweimal hörten sie Schüsse hinter sich, und noch öfter das Gebrüll des Löwen. In der Durchfahrt des Torschusters, des oberen Burgturms, entglitt die Laterne Tobes’ klammen Fingern.
    Salome wollte sie für ihn aufheben.
    »Lass sie liegen.« Er zog sie weiter.
    Sie eilten auf den Domplatz. Vor ihnen ragte die gewaltige Basilika auf, zur Rechten erstreckte sich die fürstbischöfliche Residenz, die das weitläufige Areal an zwei Seiten umschloss. Zwischen Kirche und Palast kämpften einige Lichter gegen das allmählich nachlassende Schneegestöber an. Er deutete auf die Gebäude. »Die Alte Hofhaltung. Dort finden wir bestimmt Unterschlupf.«
    Als sie vor den beiden Osttürmen des Doms nach rechts schwenkten, dröhnte hinter ihnen erneut die Stimme des Löwen. Tobes warf den Kopf herum und stolperte vor Schreck. Die Raubkatze war riesig, größer als alle, die er je an Königs- und Fürstenhöfen gesehen hatte, ein männliches Tier mit stolzer Mähne. Es setzte in der Durchfahrt des Torschusters mit einem Sprung über die fallen gelassene Laterne hinweg.
    Tobes fing im letzten Augenblick seinen Sturz ab und zerrte an Salomes Arm. »Schneller!«
    Sie rannten auf das Portal zu, das in die Innenhöfe der ehemaligen Kaiserpfalz führte.
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