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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
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Schuld geben. Das genügt in diesen schrecklichen Zeiten, einen Mann der Gefahr von Verletzungen oder Schlimmerem auszusetzen. In der Menge schwelt ein Drang nach Gewalttätigkeit; wo mehrere versammelt sind, ist der Geist des Mordes niemals fern. 
       »Ich hatte nichts Böses im Sinn«, sagte ich. »Ich bin nur ein armer Priester.« Dieser letzte Satz war sicherlich überflüssig; denn was ich war, verrieten meine Kleidung und meine Tonsur. »Niemand ist bei mir«, fügte ich hinzu. 
       »Ein Priester zu Fuß in der Fremde. Ein Priester, der sich zwischen den Bäumen versteckt«, sagte ein anderer von ihnen, der Kerl mit dem weißen Gewand, und lachte. Es hörte sich wie ein Schluchzen an. »Er hat dem kleinen Volk Predigten gehalten.« Es war ein junger Bursche, dem Aussehen nach nicht älter als zwanzig, mit weizenfarbenem, sehr ungepflegtem Haar. Seine Augen waren fahl und unstet und standen weit auseinander; doch seine Lippen besaßen die pralle Farbe von Blut. Auch er hatte Tränen auf den Wangen. 
       »Ich hatte nichts Böses im Sinn«, wiederholte ich. 
       »Steck das Messer weg, Stephen«, sagte der Wortführer zu dem dunklen Mann. »Brauchst du einen Hammer, um ein Marienkäferchen zu erschlagen?« Diese verächtliche Anspielung auf meinen Stand als Priester und meine Würde als Mann verletzte mich, doch in meinem hilflosen Zustand hatte ich immer noch zu große Angst, um etwas zu erwidern. Stephen steckte sein Messer schwungvoll in seinen Gürtel zurück und blickte mich dabei zähnefletschend an. Wie mir schien, tat er das nur, um einen minder willfährigen Eindruck zu machen. Ich sah jetzt, daß ihm an der rechten Hand der Daumen fehlte. 
       Der scheckige Klepper war bis zum Rand der Lichtung getrottet und senkte den Kopf, um am spärlichen Gras zu rupfen. Der Karren besaß ein Verdeck aus geöltem Segeltuch, doch nun konnte ich über die hintere Holzklappe ins Innere blicken. Das Gefährt war beladen mit einem sonderbaren Sammelsurium verschiedenster Dinge: Bündel von gefärbtem Zeug, Gewänder und Kostüme, eine vergoldete Krone und die ausgeschnittene und angepinselte Silhouette eines Baumes; auch sah ich eine zusammengeringelte Schlange, des Teufels Dreizack, eine flachsfarbene Perücke und eine Leiter. Auch Töpfe und Pfannen lagen dort und ein Kohlenbecken und ein Dreifuß und eine runde Metallplatte von mindestens zwei Ellen Durchmesser. 
       Man brauchte mit Ockhams Regel nicht so vertraut zu sein wie ich, um den alleinigen Urgrund für eine solche Vielfalt von Erscheinungen zu finden: Die Leute waren fahrende Schauspieler, und zum Schutz gegen die Kälte hatten sie einzelne Kostümteile angelegt. 
       Meine Angst verflog; niemand hat Angst vor Schauspielern. Dennoch sah ich mich in einer heiklen Lage. Da ich sozusagen über einen Toten gestolpert war, konnte ich jetzt nicht einfach weiter meiner Wege ziehen. Ich griff zu meinem gewohnten Mittel der Zuflucht und fing an zu reden. Wenn ich ein Thema finde, bin ich sehr wortreich, und die viele Zeit, die ich im Kollegium beim Disput verbrachte, hat meinen Redefluß noch schneller und glatter gemacht und mich die Sprachfiguren der Rhetorik gelehrt. Ich sagte den Leuten, es sei der Geist der Wißbegierde gewesen, der mich veranlaßt habe, sie zu beobachten, und betonte, daß dies kein Laster sei, wie der gemeine Mann mitunter vermute, wenn er Wißbegierde fälschlich mit Neugier verwechsle; denn im Unterschied zur Neugier entspringe der Geist der Wißbegierde einem Gefühl allgemeiner Menschlichkeit in einer wohlgeordneten Seele. Um dies zu untermauern, zitierte ich den bekannten Ausspruch des Publius Terentius Afer: Humani nil a me alienum . 
       Manchmal sind wir blind für das Unangebrachte in einer Situation. Da stand ich nun schwadronierend bei diesen Leuten, während der Tote in unserer Mitte zu einem Himmel emporstarrte, in dem sich dunkle Schneewolken ballten. Ich erwärmte mich zunehmend für das Thema und wäre fortgefahren, doch wurde ich von einem Schnauben gestört, das der Mann namens Stephen von sich gab; zudem klatschte der Knabe in die Hände. Dieser Mangel an Respekt kränkte mich; dann aber ging mir auf, was für eine Figur ich mit meiner fadenscheinigen Priesterkutte und dem wirren Haarkranz auf meinem Kopf wohl abgeben mochte. Seit Mai zog ich durch die Lande, und mein Haar war gewachsen. Mit dem Rasiermesser, das ich in meinem Packen trage, hatte ich versucht, die Tonsur in Ordnung zu bringen, doch
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